Wer kann Dreadlocks tragen, wer traditionelle Farben indigener Stämme? Und lebt die Popkultur nicht vom Austausch? Mehr Differenzierung in der Debatte über kulturelle Aneignung würde helfen, meint Experte Jens Balzer.
Erschienen im Magazin Frankfurter Allgemeine Quarterly Frühjahr 2023
Bei der intensiven Debatte über kulturelle Aneignung wird immer gerne ein bestimmtes Bild verwendet: eine junge weiße Frau, auf deren Kopf sich bunte Dreadlocks türmen. Der amerikanische Designer Marc Jacobs hatte sie den Mannequins für seine Frühjahrskollektion bei der New Yorker Fashion Week 2016 ins Haar flechten lassen. Zwar befand man die Kollektion an sich für gelungen, doch schnell wurde Kritik laut: Was fiele Jacobs ein, Dreadlocks – eine Frisur, die traditionell Schwarze tragen – an weißen Models zu inszenieren? Da zeige sich wieder, wie Weiße sich die Kultur von Schwarzen aneignen, um sich daran zu bereichern.
Ob Mode, Kunst, Literatur oder Musik – lange wurde nicht zwischen Inspiration, Zitaten und Ausbeutung unterschieden. Umso heftiger wird heute über die kulturellen Wurzeln gewisser Werke gestritten. Linke finden Konservative „ignorant“, Konservative Linke „besessen“. Einen Mittelweg scheint es nicht zu geben. Der Popkritiker Jens Balzer versucht es dennoch: In seinem 2022 erschienenen Buch “Ethik der Appropriation” erörtert er, wie problematisch kulturelle Aneignung ist, fragt aber auch, wie notwendig sie ist und wie man es vielleicht besser machen könnte.
Er findet im Gespräch die damalige Kritik an den Marc-Jacobs-Models „in ihrer Vehemenz erst mal überraschend. Sie machte aber deutlich, wie sehr sich die Wahrnehmung in den letzten 40 Jahren verändert hat. Früher war das Dreadlockstragen ein Zeichen antirassistischer Solidarität. Ihre politischen Wurzeln sind aber in Vergessenheit geraten.“ Die Modenschau sei dann zu einem Ventil geworden: weil klar wurde, wie viele sich überhaupt nicht mehr mit der Rastafari-Bewegung auseinandergesetzt hätten.
Die Auseinandersetzung mit Oberflächen können sich komplex gestalten. Das zeigt Balzer am Beispiel des Schmucks und der traditionellen Kleidung von Indigenen – über den Umgang damit wird in den USA und in Deutschland diskutiert. Der Autor differenziert zwischen Festivalbesuchern, die sich bei Coachella Warbonnets aufsetzen, oder Kindern, die sich hierzulande an Fastnacht als Winnetou verkleiden. „Dass sich in der Nachkriegszeit Deutsche mit Winnetou identifizierten, hat mit der Verdrängung des Holocausts zu tun. Im Grunde waren das verlagerte Heimatfilme, die im Wilden Westen spielten.“ Auf dieser Projektionsfläche hätte man zumindest auf der richtigen Seite gestanden. Eine Antwort darauf, wer was tragen darf, gibt das nicht – Balzer legt aber nahe, dass spezifische Rezeptionsmuster stärker reflektiert werden sollten.
Bedienen beim intellektuellen Eigentum?
Es gibt Formen der Appropriation, die eindeutig problematisch sind. Balzer zitiert im Text die Juristin Susan Scafidi, die kulturelle Aneignung als ein Bedienen „bei dem intellektuellen Eigentum, dem traditionellen Wissen, den kulturellen Ausdrücken oder Artefakten von jemandem anderen“ definiert, und zwar allein, „um damit den eigenen Geschmack zu bedienen, die eigene Individualität auszudrücken oder schlichtweg: um daraus Profit zu schlagen“. Dafür stand zuletzt etwa die amerikanische Textilmanufaktur Pendleton Woolen Mills: Ihre berühmten Wolldecken, Pullover und Hemden zieren Muster amerikanischer Indianerstämme. Das Unternehmen verteidigt sich: Man habe schon früher auch den Markt für Indigene bedienen wollen. Die Nachkommen halten entgegen: Man hätte sie bei der Gestaltung zumindest beteiligen müssen.
Um sich vor einer derartigen Kommerzialisierung zu schützen, gründete der Stamm der Massai vor 14 Jahren die Stiftung „Maasai IP Initiative Trust Ltd“. Ob aber Louis Vuitton für die rot-blauen Hemden und Schals, die Kim Jones einst für die Marke entwarf, je etwas an die Stiftung zahlte? Wohl kaum. Das ist die spezielle Problematik der Mode: Sie lebt als Kunst stark vom Zitat, referiert dabei aber oft weniger auf Individuen, sondern oft auf Epochen, Kulturkreise, Kollektive – und verkauft ihre intellektuellen Anleihen teuer weiter. Zugleich wollten sich Luxusmarken in den letzten Jahren „kulturell anpassen“, um lukrative Märkte außerhalb Europas und Nordamerikas zu erschließen. Wie das nach hinten losgehen kann, zeigte Dolce & Gabbana 2018 mit einer Kampagne voll Klischees in Schanghai. Die chinesische Kultur wurde dabei jedoch weniger angeeignet als rassistisch vorgeführt.
Ein Jahr später nannte Kim Kardashian ihr neues Unterwäschelabel Kimono in Skims um, nachdem selbst der Bürgermeister Kyotos sie dazu aufgefordert hatte, das Wortspiel mit dem Vornamen zu überdenken. Cornrows für die Music Awards, indischer Nasenschmuck für die Pariser Modewoche – für rote Teppiche funktionieren Prominente gern mal Traditionsreiches in Trends um. Alles nur für die Eitelkeit? Laut Scafidis Definition: Ja, hier wird allein der eigene Geschmack bedient, die Individualität zu unterstreichen versucht.
Aber ist es verwerflich, mal einen Sari zu tragen, wenn man nicht aus Indien stammt? Balzer schlägt hier vor, zwischen einer „guten“ und einer „schlechten“ Form der Aneignung zu unterscheiden: Erstere sei “erfinderisch”, sie erweitere “das Spiel der kulturellen Möglichkeiten” und legt (angelehnt an den Philosophen Édouard Glissant) nahe: Identität erwächst nicht aus einer einzigen Wurzel. Die „schlechte“ Form der Aneignung verfestige hingegen „scheinbar vorgegebene Identitäten“ und nutze somit die bestehenden Machtverhältnisse ästhetisch aus, um sie politisch zu zementieren.
Balzer betont, dass er auch zeigen wolle, wie Aneignung eben auch „Motor jeder kulturellen Entwicklung“ sei. Problematisch werde es, wenn ein „Fetisch der Authentizität“ entstehe: „Das tritt in der Hippiekultur hervor, in der man sich dann besonders spirituell gibt und so versucht, Kulturformen ursprünglicher erscheinen zu lassen, als sie sind.“ Denn gerade dieser Begriff des Originalen, der Echtheit sei infrage zu stellen. Dieses Machtgefälle – wer kann wen als „authentisch“ wahrnehmen, um sich zu bedienen – ist der eigentliche Reizpunkt der Debatte. Das sichtbarer zu machen wäre der erste Schritt. Der zweite, es zu überwinden.
Die Dreadlocks der britischen Punks
Balzer verweist auf die Überlegungen der Philosophin Judith Butler zur Drag-Kultur. In der Aneignung anderer Geschlechterrollen lasse sich subversives Potential entwickeln. Ist die Drag-Kultur aber wirklich subversiv, wenn Normativität nur in gewissen Spielräumen herausgefordert wird? „Queere Menschen haben mir erzählt, wie wichtig diese Exotisierung für sie ist. Sie wird ihnen von der Mehrheitsgesellschaft ohnehin aufgedrückt, sie sich anzueignen eröffnet, daraus etwas Individuelles zu gestalten.“ Es gehe eben nicht darum, sich perfekt zu verwandeln, sondern zu zeigen, dass dieses Bild nicht erreichbar ist und auch nicht erreicht werden soll. Appropriation hat also stets ein ambivalentes Momentum: Selbst in der Subversivität der Überschreitung bestätigt sie immer auch das Bestehende.
Erschwerend kommt hinzu, dass Kulturgrenzen meist fließend sind: „Das ist das Problem bei der Definition von Scafidi“, findet Balzer. „Sie geht davon aus, dass Angehörige einer Kultur Erzeugnisse einer anderen Kultur ausbeuten. Wer aber kann genau sagen, wem welche Kultur gehört? Wer welcher Kultur genau angehört?“ Balzer will mit anderen Begriffen über Aneignung nachdenken. Beispielsweise könne man von einer „Hybridität“ der Kulturen ausgehen oder sich an Überschneidungen, Verflechtungen und Fragmenten orientieren. Auf diese Weise müsse, so Balzer, die Perspektive immer dezidiert mitgedacht werden.
„Aus pophistorischer Perspektive“, sagt Balzer, noch einmal auf das Beispiel Dreadlock verweisend, „bin ich heilfroh, dass britische Punks angefangen haben, Dreads zu tragen, anstatt auf die andere Seite abzudriften.“ Allerdings sei die Kritik nachvollziehbar. „Die Kulturschaffende Tonica Hunter sagte mal zu mir: ‚Das ist ja schön und gut für euch Weiße – aber davon haben meine Eltern und Großeltern aus Jamaika nichts, die man wieder aus Großbritannien rauswarf.‘“ Die Frage ist laut Balzer nicht: Wer darf jetzt was? Sondern: Wie reflektieren wir, sodass daraus ein emanzipatorisches, politisches Bewusstsein entstehen kann?
Marc Jacobs erklärte damals zunächst, er habe sich von den pinken Dreadlocks der Regisseurin Lana Wachowski und den berühmten New Yorker Clubkids inspirieren lassen. Was er damit meinte: Er zitiere nur eine vornehmlich weiße, hedonistische Subkultur – die sich aber wiederum die Ästhetik einer schwarzen, religiösen Bewegung angeeignet hatte. Dieser Umweg scheint zuletzt in der Mode die favorisierte Art der Aneignung zu sein: Während Dreadlocks, Häuptlingsfedern und Massaischals kaum noch zu sehen sind, bedient man sich nun gewisser Subkulturen: BDSM für Balenciaga, Camp für Thierry Mugler oder Rave und Punk für Vetements. Auch auf Festivals, sagt Balzer, falle auf: Immer mehr Leute tragen heute einen Goth-Look – Kreuzkettchen wie Madonna in den Achtzigern. „Für Weiße ist die Ikonographie der Kirche dann wohl unverfänglicher.“
Das Spiel mit den Referenzen, meint der Popkritiker, müsse als Kulturtechnik besser trainiert werden. Aber wird Kunst nicht irgendwann zur Wissenschaft, wenn man überall Fußnoten anhängt? „Das Spielerische gibt es in der Popkultur schon seit den Achtzigern. Warum sollte das plötzlich ein Problem sein?” Er führt Hip-Hop als gelungenes Beispiel an, wie so etwas funktionieren könnte. „Künstler legen mit Samples Fährten, die einen dazu auffordern, ihnen nachzugehen.“
Man könnte meinen, die Mode versuche Ähnliches: weniger anzueignen, offener zu zitieren, sich diverser abzubilden – solange es profitabel bleibt. Ist das dennoch eine gute Entwicklung? „Natürlich kann man den Versuch, mehr Diversität zu ermöglichen, als die allerneueste kapitalistische Strategie denunzieren. Natürlich wäre es wünschenswert, wenn überhaupt niemand mehr ausgebeutet würde. Das wird schwer erreichbar sein. Man kann aber fragen: Setzt sich das, was man an der Oberfläche sieht, auch an den Hebeln durch? Wie wird die Macht dort verteilt?“
Im selben Jahr, als Jacobs seinen Models Dreads einflechten ließ, wies ein Berufungsgericht die Klage einer Schwarzen zurück, deren Arbeitgeber ihr das Tragen von Dreadlocks untersagt hatte, weil es „ungepflegt“ aussehe. Zwischen den Laufstegen und Bürogängen Amerikas war die Macht immer sehr ungleich verteilt. Man kann aber fragen: Würde beides heute noch mal so laufen?
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