Mehr als eine Milliarde Menschen nutzen die App aus China. Könnte Peking sie manipulieren? Was passiert mit ihren Daten? Oder sind solche Fragen nur Vorwände, um einen Konkurrenten loszuwerden?
Erschienen am 15. August 2023 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.
Die App macht Jugendliche süchtig. Sie macht krank. Sie erzählt Unwahrheiten nach, verbreitet sogar absichtlich Lügen. Sie macht falsche Versprechungen. Sie teilt Privates mit Dritten. Und wo sie herkommt, zählen Menschenrechte wenig. Doch eine Milliarde Menschen nutzen Tiktok. Mit keiner anderen App verbringt die Menschheit mehr Zeit.
Früher wurde auf Tiktok vor allem gesungen, getanzt, gekocht und geschminkt. Heute wird auf der App des chinesischen Unternehmens Bytedance auch diskutiert, kommentiert, erklärt, was auf der Welt geschieht. Damit durchlebte Tiktok einerseits die gleiche Entwicklung wie die amerikanischen Mitbewerber Facebook, Twitter und Instagram: Erst ließen Unternehmen Influencer für sich werben, dann folgten Aktivisten und machten Politik.
Andererseits gibt Bytedance noch weniger preis als die amerikanische Konkurrenz. Wie Tiktok genau funktioniert, wie die Plattform moderiert wird, bleibt unklar. Das ruft Ängste hervor: Ist Tiktok das trojanische Pferd eines autoritären Regimes, installiert auf Abermillionen Handys von Bürgern demokratischer Staaten? Wie verändern die kurzen Clips, wie Wissen vermittelt, wie über politische Themen gesprochen wird? Was passiert mit den Daten der Nutzer? Muss man Angst vor Tiktok haben?
Einige Staaten bejahen die Frage. Am lautesten wird darüber wohl in den Vereinigten Staaten gestritten, wo Tiktok-Geschäftsführer Shou Zi Chew dieses Jahr schon im Repräsentantenhaus Rechenschaft über den Umgang mit Nutzerdaten ablegen musste. Im Mai beschloss Montana als erster Bundesstaat, Tiktok zu sperren; das Unternehmen hat dagegen geklagt. Indien ist bisher die einzige Demokratie, welche die App landesweit gesperrt hat; das geschah schon vor drei Jahren im Zuge einer politischen Offensive gegen den Rivalen China. Doch auch im französischen Senat hat ein Ad-hoc-Ausschuss vor Kurzem gefordert, Tiktok von 2024 an zu sperren, wenn die Betreiber den Senatoren bis dahin nicht doch noch Auskunft geben über die Besitzstrukturen des Unternehmens und dessen Umgang mit den Daten der Nutzer. Neben den Vereinigten Staaten verboten die Regierungen von Großbritannien, Kanada, Australien, Neuseeland und Taiwan sowie im März auch die EU-Kommission ihren Mitarbeitern die Nutzung der App auf Dienstgeräten. Fast überall im Westen wird China zunehmend als strategischer Rivale betrachtet.
Bytedance stemmt sich gegen das Misstrauen, indem es im Westen versucht, Tiktok gar nicht als chinesische App erscheinen zu lassen. Die Hauptsitze von Tiktok befinden sich in Singapur und Los Angeles; seit drei Jahren seien alle mittlerweile 40.000 Content Moderators außerhalb Chinas angesiedelt. Sie sind dafür zuständig, dass die Regeln der Plattform und die Gesetze eingehalten werden.
In China dagegen gibt es Tiktok unter diesem Namen gar nicht, sondern eine Version der App namens Douyin. Sie wird von der chinesischen Regierung kontrolliert und zensiert. Wie eng beide zusammenhängen, zeigt allerdings schon das Logo der App: ein d wie Douyin, das mit einem t wie Tiktok verschmilzt. Investigative Journalisten haben beschrieben, wie chinesische Bytedance-Programmierer Tiktok-Daten abgerufen hätten oder wie Journalisten ausgespäht worden seien.
Dass auch auf Tiktok Beiträge zensiert werden, ist sowieso kein Geheimnis: Videos zur Internierung der Uiguren, den Protesten in Hongkong, zu Taiwan, Tibets Unabhängigkeitsbestrebungen oder der regierungskritischen Falun-Gong-Bewegung wurden gelöscht. Allerdings hört die Zensur nicht da auf, wo ganz unmittelbar die Interessen der kommunistischen Führung in Peking betroffen sind. Gelöscht wurden auch Beiträge zur Unabhängigkeit Irlands, zur Annexion der Krim durch Russland oder zur Republik Tschetschenien.
Dass Tiktok politischer wurde, ist nicht einfach passiert. In den ersten Jahren wurde die Reichweite von Videos gedrosselt, in denen Politiker zu sehen waren. Vor knapp einem Jahr erklärte der amerikanische Tiktok-Manager Blake Chandlee, Tiktok sei zwar immer noch vor allem eine Unterhaltungsplattform, auf der Menschen ihre Geschichten teilen könnten. Diese dürften sich aber „auf alle Aspekte ihres Lebens beziehen, einschließlich aktueller Ereignisse wie Wahlen und politische Themen“. Tiktok solle dabei ein „positives Umfeld“ bleiben, beharrte Chandlee.
Doch polarisierende Themen wie die Corona-Pandemie oder der Klimawandel waren da längst in der App angekommen. Gut möglich, dass auch die Black-Lives-Matter-Proteste nach der Tötung George Floyds durch Polizisten in Minneapolis im Mai 2020 ohne Tiktok-Videos nicht so schnell in eine globale Bewegung gemündet wären. Innerhalb einer Woche wurden damals 365.000 Videos mit dem Stichwort #BlackLivesMatter hochgeladen und insgesamt 1,25 Milliarden Mal angesehen.
„Videos funktionieren wie eine Zeugenschaft“, erklärt die Professorin Britta Hartmann, die an der Universität Bonn zu Aufmerksamkeitsstrategien und Videoaktivismus auf Tiktok forscht. Während die Videoproduktion auf der älteren, amerikanischen Plattform Youtube sehr aufwendig sei, mache Tiktok es dem Nutzer leicht. „Auf Tiktok produziert und vertont man das Video direkt in der App. Das ermöglicht sogenannten Everyday-Aktivismus“, so Hartmann. „Es ist vor allem für Jugendliche eine Möglichkeit, sich einfach Gehör zu verschaffen.“
Nutzer werfen sich auf Tiktok in einen endlosen Strom aus kurzen Videos, die sich – ohne Chronologie, ohne Datum – so lange wiederholen, bis man weiterwischt. Wer hier „Creator“ ist und wer „Consumer“, wird nicht wie etwa bei Instagram strikt unterschieden. Was Nutzer lockt, ist auch die riesige Sammlung sonst lizenzpflichtiger Musik, um Videoclips zu vertonen. Musik und Sound machen auch politische, abstrakte Themen populär. Zuletzt habe man das beim Aufstand iranischer Frauen gegen ihre Unterdrückung beobachten können, so Hartmann. „Das Lied ‚Another Love‘ von Tom Odell wurde über Kampfszenen aus den Straßen Teherans geschnitten. Wer den Song benutzte, konnte somit Solidarität bekunden.“ Dadurch verändert sich, wie über politische Themen kommuniziert wird. „Nutzer sprechen nun eben bei Schminkvideos über Politik“, sagt Hartmann.
Für politische Akteure, die versuchen, gezielt Botschaften loszuwerden, wird die Lage damit unübersichtlich. Versuchen manche Politiker auch deshalb, Tiktok zurückzudrängen? Weil sie ihre Möglichkeiten schwinden sehen, den Diskurs zu steuern?
Marcus Bösch von der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg hält es jedenfalls für überholt, säuberlich zwischen Information und Unterhaltung unterscheiden zu wollen. Tiktok repräsentiere die kommunikative Infrastruktur der Gegenwart: „Jede Person auf diesem Planeten kann auf der Stelle ein Video hochladen, so tun, als sei sie Journalistin, und Quatsch erzählen.“ Doch es muss nicht Quatsch sein. Bösch verweist auf eine Studie des Pew-Instituts, wonach 33 Prozent der Tiktok-Nutzer journalistische Inhalte auf der App konsumieren, Tendenz steigend. „Daran zeigt sich, dass das Bedürfnis nach Inhalten dieser Art offenbar zunimmt, wenn man viel Zeit auf der Plattform verbringt“, sagt der Forscher. Von den aktiven Nutzern sind zwei Drittel Jugendliche, die im Schnitt eineinhalb Stunden am Tag auf der App verbringen; Tiktok überholte damit schon vor zwei Jahren Youtube. Auf Instagram verbringt der Durchschnittsnutzer eine halbe Stunde.
Einige etablierte Medien bespielen längst Tiktok-Kanäle, von der Tagesschau bis zur F.A.Z. Das Format setzt dem Anspruch, umfassend und vertieft zu informieren, allerdings Grenzen. Bösch rät, sich davon nicht abschrecken zu lassen. „Politische Kommunikation findet nicht ausschließlich über eine einzige Plattform statt, sondern ist Teil einer Mediendiät, die alle Menschen nutzen – am Ende findet sie im analogen Leben statt“, sagt er. „Zuspitzungen, die sich auf einem Wahlplakat finden lassen, sind auch nur Teil des großen Ganzen.“ Ähnlich könne man auch Tiktok verstehen: Die App sei „eher ein Anfang denn das Ende der politischen Kommunikation“.
Bei jedem sozialen Netzwerk kommt es auf den Algorithmus an. Welche Art von Beiträgen belohnt die App mit großer Reichweite, welche Inhalte haben es schwerer? Was bekommt der eine Nutzer gezeigt und was der andere? Professor Cornelius Puschmann untersucht an der Universität Bremen die Rolle von Algorithmen in der Nachrichtennutzung und die Auswirkungen auf politische Polarisierung. Er erläutert: „Es ist die Logik von Facebook gewesen, auf das Netzwerk zu achten.“ Die Empfehlungen ergeben sich demnach zunächst aus Angaben zu Land, Geschlecht, Sprache, Gerät und den Kontakten, also den Sozialstrukturen, die auf der Plattform nachverfolgt werden. „Die Logik von Tiktok ist, dass die Inhalte selbst wichtiger sind“, so Puschmann: Der Tiktok-Algorithmus wertet für die „For You Page“ vor allem aus, was gelikt, geteilt und kommentiert wird – sowie „unbewusste Interaktionen“, also wie lange und wie oft ein Video angesehen wurde.
Der Unterschied ist erheblich, auch für politische Kommunikation. Wer bei Instagram keinen politischen oder aktivistischen Profilen folgt, wird davon auch wenige bis keine auf der sogenannten „Explore“-Page angezeigt bekommen, auf der die App dem Nutzer Inhalte von Profilen schmackhaft machen will, denen er bisher noch nicht folgt. Auf Tiktok hingegen kann einem ein Video allein deshalb angezeigt werden, weil es sehr unterhaltsam gestaltet ist und daher einem großen Publikum ausgespielt wird. Die „Creators“ müssen sich dafür keine Namen machen wie Aktivisten oder Politiker. Ob die Nutzer solide informiert werden, ist für Tiktok unerheblich.
Dennoch verbreiten bisweilen selbst solche Regierungen und Politiker Inhalte auf Tiktok, die zugleich ihren Mitarbeitern die App verbieten. Der Hamburger Forscher Bösch hält das nicht für bigott. „Auf Diensthandys sollten allgemein keine Apps installiert sein, die auf das Mikrofon oder Telefonbuch zugreifen können“, sagt er. Das Dilemma der Politik versteht er. „Soll ich als Partei, Institution oder Organisation nach den Regeln einer privatwirtschaftlichen, kapitalistischen Plattform agieren, oder lass ich’s bleiben?“ Wenn alle Zielgruppen erreicht werden sollen, dann müsse man sich auf diesen Plattformen aufhalten. „Ist das die Idealvorstellung von einem freien, offenen Internet? Sicherlich nicht.“
In Deutschland hat Tiktok etwa 20 Millionen Nutzer. Leute aller Altersstufen nutzen die App, entsprechend breit sind die Inhalte gefächert. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach versucht auf dem Tiktok-Profil des Ministeriums etwa in „kompakt“-Formaten die Krankenhausreform oder das Lieferengpassgesetz zu erklären. Zwar sei es fraglich, so Bösch, ob Tiktok bereits eine zentrale Rolle im deutschen Sprachraum einnehme. Doch der Trend sei klar. „Wenn Leute zukünftig wissen sollen, wofür Parteien stehen, wofür man sie wählen soll, dann ist das ein strategischer Aspekt.“ Am erfolgreichsten von allen Parteien im Bundestag sei auf Tiktok bisher die AfD: Abgeordnete, Bezirks- und Landesverbände – jeder habe einen eigenen Account. „So wie die AfD und rechtspopulistische Gruppen zu Beginn der sozialen Medien neue Plattformen sehr früh besetzten, um Zielgruppen zu erreichen, geschieht das auch jetzt bei Tiktok.“ Der rechte Bereich sei überproportional im deutschsprachigen Bereich vertreten, viel mehr als linke Positionen.
Desinformation gehört dazu. Vor der vorigen Bundestagswahl gab ein Account fälschlich vor, für den Bundestag zu sprechen. „Dieser wurde von Tiktok nicht als problematisch angesehen, weil er auf recht feine Weise Propaganda gestrickt hat. Es wurden Ausschnitte aus Parlamentsreden hochgeladen, die in ihrer Gesamtheit zum Großteil ein AfD-Narrativ bedienten.“ Wer diesen Account bedient oder finanziert habe, sei bis heute unklar. Tiktok versuche zwar, mit Kennzeichnungen und Aufklärungskampagnen und Faktenprüfungen vorzugehen. „Da wurde viel aufgeblasen, viel versprochen, aber faktisch sehr wenig gemacht.“
Das zeigte sich auch nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine. Tiktok reagierte erst spät auf politischen Druck und sagte zu, Profile zu kennzeichnen, die von der russischen Regierung geführt würden, sowie Vorwürfen über Falschinformationen nachzugehen. Dennoch erreichten gefälschte Kriegsvideos schnell riesige Reichweiten. Dafür wurden Tonaufnahmen, Szenen aus Videospielen oder Aufnahmen aus Syrien, Tschetschenien und Libyen zusammengeschnitten. Ein Profil erreichte mit einem Video in kurzer Zeit 30 Millionen Aufrufe. Es zeigte aber keine Kriegshandlungen, sondern eine ukrainische Militärübung aus dem Jahr 2017.
Das Einfallstor für Lügen und Propaganda stehe bei Tiktok weit offen, urteilt auch die Bonner Professorin Hartmann, und das Unternehmen unternehme wenig dagegen. Dazu kommt „misinformation“: Falschinformationen, die ohne Täuschungsabsicht verbreitet werden. Die amerikanische Regierung versucht dem entgegenzuwirken: Nach dem Kriegsausbruch in Europa wurden die 30 wichtigsten Tiktoker eingeladen, um sie über die Bedeutung der Ukraine, den Status quo, strategische Ziele, die NATO, mögliche Entwicklungen aufzuklären.
Dennoch unterstellt Hartmann der amerikanischen Regierung, dass sie Angst vor Tiktok nicht in erster Linie aus Sorge um Wahrheit und Demokratie schüre, sondern weil es in ihren Handelskrieg mit China passe. „Das Silicon Valley bekommt zum ersten Mal einen Konkurrenten, an den es sich anpassen muss.“ Hartmanns Kollege Bösch sieht das ähnlich. Er nennt Tiktok zwar „höchst problematisch“, sagt aber im gleichen Atemzug: „so wie andere Apps auch“. Ob mit den Nutzerdaten in einem autoritären Staat anders umgegangen werde als in einem demokratischen Staat, sei nicht bekannt. Es bestehe genauso die Gefahr, dass eine westliche Plattform die von ihr gesammelten Daten direkt oder indirekt an China verkaufe. Auch der Algorithmus-Forscher Puschmann will nicht nur vor der App aus China warnen: „Schlimm ist, dass Plattformen allgemein aktiv untersuchen, wie wir interagieren – und entscheiden, was gesehen werden soll und was unsichtbar wird.“
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