Alles Neue findet seine Entsprechung im Alten. Doch was bedeutet das für die Mode? Kann sie Eigenes erschaffen? Oder wiederholen wir uns ewig?
Erschienen am 29. September 2022 im Frankfurter Allgemeine Magazin
Neulich Abend, ich sitze in der S-Bahn, mir gegenüber mein jüngeres Selbst. Das Mädchen, um die 14, blickt aus dem Fenster in den schwarzen Tunnel. Sie trägt eine Schlaghose mit einer mittig gesteppten Naht, tiefsitzend, sodass die Hüftknochen zu sehen sind. Ein Tanktop und darüber eine zugeknöpfte Denimweste. Nichts an diesem Outfit ist ironisch; zu neu für Vintage, zu normal für ein Kostüm. Nein, das ist ganz genau das, was ich getragen hatte, als ich 14 Jahre alt war. Zweierlei irritiert: Zum einen, dass dieses Mädchen 2006 vermutlich noch nicht geboren war. Zum anderen, dass sie als Nachgeborene genau das trägt, was ich in meiner Jugend getragen habe.
Ich stellte mir vor, als Teenager in die Zukunft zu reisen, um festzustellen, dass die Jugendlichen aussehen wie ich. War denn in dieser halben Generation gar nichts passiert? Warum hatte es keine modische Revolution gegeben? Oder sich ein allumfassender, epochenprägender Stil entwickelt? Ist die Mode schlichtweg in unendlichen nostalgischen Schleifen gefangen, die mit der Zeit immer kleiner gebunden werden? Und wie viel Abstand braucht es, um sich der Ikonographie einer anderen Zeit neu bedienen zu können?
Jeder Einzelne ist besonders
Ich betrachte ihren Y2K-Look. Die leicht gebleichte Schlaghose, die dunkle Weste, das als Oberteil getarnte Unterhemd. Genau genommen gehört das, was mein Gegenüber trägt, weder der heutigen noch meiner Jugend: Es gehört der Jugend der Siebzigerjahre. Die Siebzigerjahre, das Jahrzehnt also, in dem die Moderne ihren Höhepunkt erreichte. Nach den großen Kriegen hatte sich die Welt neu geordnet – gesellschaftlich, künstlerisch, technologisch. Was Ende der Sechziger aufgebrochen worden war, ergoss sich ins Folgejahrzehnt.
1972 baute man das Centre Pompidou, ließ den TGV fahren und die Concorde fliegen. Frauen, Schwule, Lesben und Schwarze verlangten mehr Rechte und bekamen auch ein paar. In Vietnam wurde weitergekämpft, die Weltmächte drohten einander noch immer, die RAF terrorisierte, und die Neuen Rechten wurden lauter. Die Welt wurde kleiner, das Öl wurde knapper, das Klima wärmer. Und die Gesellschaft implodierte ästhetisch in lauter kleine Subkulturen. Sie versprachen jungen Menschen: Jeder Einzelne von euch ist besonders.
Mittel des Ausdrucks der Besonderheit: Musik und Mode. Ziggy Stardust für Rock in Kansai Yamamoto; Liza Minnelli für Glamour in Halston; Roxy Music als Bohemian in Yves Saint Laurent; Sex Pistols als Punk in Vivienne Westwood; Blondie für New Wave in Stephen Sprouse. Vor allem die Designer in Frankreich und den Vereinigten Staaten installierten sich als Seismographen für die vibrierende Oberfläche der Popkultur und erfassten sie in ihren schönst möglichen Formen – um sogleich vom Mainstream überzeichnet und im eigentlichen Stoff der Epoche, Polyester, für die Masse abgetragen zu werden.
Die Avantgarde war im fliegenden Wechsel, doch ihre ästhetischen Legate werden bleiben. Einer gebildeten Jugend in einer unsicheren Welt galt diese Musik als bewusster Eskapismus und ihre Kleidung als elaborierte Lust. Der Glanz der Zwanzigerjahre schimmerte in ihrer Inszenierung durch. Doch eigentlich, schreibt der amerikanische Journalist Tom Wolfe zynisch, gehe es ihnen nur darum, „die eigene Persönlichkeit zu gestalten, verbessern, verfeinern“.
Wie Aristokraten der Frühen Neuzeit seien sie stets mit „dieser süßesten aller Beschäftigungen“ zugange: „jede köstliche Nuance“ des Selbst „zu beobachten und zu studieren“, um es „zu lieben“. Diese Obsession werde zum Narzissmus einer ganzen Generation, „Me, Me, Me“ schreibt er immer wieder. Sein Essay erscheint 1976 und lautet „The Me Decade“. Ein bisschen ironisch: Ausgerechnet ein New Journalist, der es nicht lassen kann, sich in Texte hineinzuschreiben, wirft seinen Zeitgenossen Selbstbezogenheit vor.
„I am worth it“, sagt die Jugend
Was ihn eigentlich irritiert: Die Konformität, die Mitte des Jahrhunderts existierte, hat sich aufgelöst. Die vorangegangene Generation, scheinbar unmündig ihrem Schicksal gesellschaftlicher Rollen ergeben (Hausfrauen in Stiftröcken, in denen sich kein Schritt wagen ließ; Angestellte, die sich durch weiße Kragen von Arbeitern mit blauen Kragen abheben wollen; Männer, die in Dreiteilern schwitzen müssen), werde durch die eitlen Gesten dieser neuen Generation abgewertet.
„I am worth it“, entgegnet sie frech: Ich bin es mir selbst wert, mich zu kleiden, wie es mir passt, zu hören, was mir entspricht, zu tanzen, um mich auszudrücken. Wovor Wolfe Angst hatte: Wem soll man noch zuhören, wenn jeder sprechen will? Wem eine Bühne geben, wenn jeder singen will? Wem Raum geben, wenn jeder tanzen will? Und dann wiederum: Ist es nicht der nachvollziehbare Wunsch eines Menschen, sich selbst so besonders wahrzunehmen? Wenn nicht Individuum, so doch vielleicht Teil einer Avantgarde, Subkultur oder zumindest eines Trends zu sein?
Was 1972 noch brachte: den Personal Computer und das Internet. Gut 40 Jahre später. Ich weiß mich mittlerweile zu kleiden und bin ausgezogen, um zu studieren. Punk is dead – so are Glam, Rock, Bohème, Hippies, New Wave. Aber es gibt noch Röhrenjeans und Glittertops und Blousons und Tuniken und bunte Strumpfhosen. Alles davon besitze ich, alles davon trage ich, zur gegebenen Zeit, am gegebenen Ort. Nur dass ich einen Blazer im Seminar trage, wird ungern gesehen; nur noch wenige Professoren machen das.
Menschen wie ich schienen sich wohl für etwas Besonderes zu halten, schreibt der amerikanische Kolumnist Joel Stein. Man habe mir, als Nachgeborene der Me Generation, von vornherein zu viel Selbstvertrauen an die Hand gegeben, auf dass aus mir etwas werde. Und – schlimmer noch – ein Handy. Was der Me Generation die sexuelle Revolution, sei meiner Generation, den Millennials, die Informationsrevolution. Sie habe uns als Individuen nun „noch mehr befähigt“, zu jeder Strömung eine Gegenströmung zu provozieren.
Frauen tragen wieder Schlaghosen, Männer keine knappen Shorts mehr. Hosen und Blazer sind für Frauen normal, Rock und Bluse sieht man nie an Männern. Lange und kurze Haare sind für beide okay, aber irgendwie für Lesben und Metaller okayer. Denim bleibt konstant. Die Charts sind schlechte Samples, aber es gibt ja noch Plattenläden und auch Vintage-Shops. Man kann noch Punk sein, aber kein Emo mehr. Den einen begegnet man noch auf der Straße, die anderen sieht man vielleicht noch im Netz.
Die neue Männlichkeit des Harry Styles
Doch muss sich niemand in seiner Kleidung einordnen, um dazuzugehören. „Einst mussten die Menschen ihre Individualität in den Gemeinschaften, in die sie hineingeboren wurden, finden. Heute werden sie als Individuen geboren und müssen ihre Gemeinschaft finden“, schreibt das Kunstkollektiv K-Hole in seinem Trendbericht 2013. Die einen suchen ihre Cliquen (Punks, Emos, Lesben, Metaller); die meisten tragen jedoch einfach Jeans und Turnschuhe und Shirts.
„Normcore“ tauft K-Hole das, und dieser Stil ist darin in gewisser Weise überlegen: Wer sich so kleidet, „weiß, dass die eigentliche Kunst darin besteht, das Potenzial für die Entstehung von Gemeinschaft zu nutzen“. Exklusiv kann jeder sein – sich anpassen zu können sei schwieriger. Biologie-Studentinnen und Milliardäre tragen Normcore. Das neue iPhone Colour kommt auf den Markt, Steve Jobs kann es nicht mehr in seinem schwarzen Issey-Miyake-Rollkragen-Pullover vorstellen.
Es ist das erste Modell, das so preiswert ist, dass ich mir vorstelle, einen Vertrag dafür abzuschließen. Die Tasten meines Blackberrys knacken verdächtig. Und auf dem iPhone funktioniert Instagram. Fast zehn Jahre später. Harry Styles ist Pop in Gucci. Volants, Samt, Perlenkette, Boa, ein wahrer Aristokrat der Siebzigerjahre, könnte man meinen. Er wird für eine neue Männlichkeit gefeiert. Als er auf einem „Vogue“-Cover ein Spitzenkleid trägt, überschlagen sich die Meinungen: revolutionär, sagen die einen, abartig, finden die anderen.
Stand heute gefällt das Bild rund acht Millionen Menschen auf Instagram. Und ist dabei doch nur eine weitere Schleife der Zeit. Styles ist Botschafter einer Marke, die die Siebziger in der Gegenwart vertritt: eklektisch und bunt und androgyn. So sind wir heute, oder nicht? Der junge Brite, er könnte das jüngere Selbst Mick Jaggers sein. Doch der trägt jetzt schwarze Turnschuhe und weiße Hemden (alte Männlichkeit in Normcore). Ein flamboyantes Outfit für die Bühne muss reichen. Selbst die, die einst Stil prägten, brauchen ihn nicht mehr.
Und die Jungen heute auch nicht. Erst kamen die Mode-Influencer, griffen leidenschaftslose Muster und Farben auf, die niemanden irritieren sollten, inszenierten sich selbst als Avantgarde, aber am Ende doch nur Marken. Sie sind das Gegenteil der Avantgarde – sie reflektieren, was die Masse ohnehin schon trägt. Doch ging mit ihnen keineswegs der Geschmack „köstlicher Nuancen“ verloren. Z folgt auf Me, Me, Me, Me.
Nur trägt diese Generation ihr stilisiertes Selbst nicht auf die Straße. In der Pandemie potenzierte sie sich zu Alter Egos, durch die sie das sein konnten, was ihnen verwehrt war. In Tweed-Jacketts und Nickelbrillen, mit Büchern auf Tischen, luden sie Videos auf Tiktok hoch. Wenn man sich schon vorstelle, wirklich zu studieren, dann doch gleich an einer renommierten Universität, der sie nun zumindest qua Kleidung angehörten. Das Leben in digitaler Form sei kreativer, findet die Hälfte dieser Generation. Nur online sehe man ihr wahres Selbst, sagt mehr als ein Drittel.
Trends sind tot, es lebe Core
Dort können sie sprechen und singen und tanzen, so viel sie wollen. Das köstliche Selbst, man trägt es, wie bei einer Praline, im Kern. Trends sind tot, es lebe Core. Cottagecore, Cabincore, Angelcore, Goblincore, Softcore, Clowncore, Regencycore, Cutecore. Die Subkulturen von früher finden ihre Entsprechungen und werden mit jeder Entsprechung kleinteiliger. Eine Jugendliche hat deshalb online ein Lexikon eingerichtet, Aesthetics Wiki, dort kann man allesnachschlagen. Wonach sich Ästhetik heute richtet: Serien, Anime, Games. Diesen Sommer trug man Barbiecore.
Pink, fun, hyperfeminin. Keine Frau, kein Mädchen will wie eine Puppe behandelt werden; sie kann es sich aber heute leisten, sich so zu inszenieren und zu fordern, ernst genommen zu werden. In den Siebzigern hätten sie das nicht verstanden, aber sie wussten auch noch nicht, dass aus dem Personal Computer ein Smartphone werden und jedes Individuum der neuen Generation sein inszeniertes Selbst in einer Jackentasche bei sich tragen würde.
Eine Avantgarde wie frühergibt es nicht mehr – die Designer aber schon. Nur läuft es nun so: Weil das Klima immer wärmer wird, soll es keine Jahreszeiten mehr geben. Weil die Geschlechter gleichberechtigter sind, muss man sie in ihrer Kleidung nicht mehr unterscheiden. Es wird kollaboriert, um den Eindruck zu erwecken, etwas Neues sei entstanden. Auf der Bühne trägt Harry Styles die Gazelle von Adidas x Gucci.
Und weil im unbegrenzten Netz Zeit Währung ist, wird Aufmerksamkeit zum begehrtesten Gut. Bei einer Haute-Couture-Schau in Paris verhüllt Balenciaga die Gesichter der Models, um Schleier lüften zu können. Darunter eine Nicole Kidman, Kim Kardashian, Dua Lipa – ein Oh!-Moment schafft Aufmerksamkeit, weil Videos tausendfach geteilt werden. So diktiert sich die Marke ihren Wert, Stars sind keine Musen, sie sind allein Mittel zum Zweck.
Für diese Momente bräuchte es sie nicht einmal unbedingt, das kann auch eine Tasche. Sie dreht Köpfe, denn sie ist aus Kalbsleder, in Form eines Müllsacks, und kostet 1800 Dollar. Ein einfach zu konsumierender Skandal, eine Tasche, nicht dazu gedacht, getragen zu werden. Nein, auf ihrem Schoß hält das Mädchen eine kleine Baguette-Tasche, wie ich, als ich 14 Jahre alt war.
Ich steige aus, das Mädchen bleibt sitzen, die S-Bahn fährt weiter, die Tasche bleibt liegen. Sie war mal ein Moment gewesen, als MySpace und Charts noch eine Bedeutung hatten. In meiner lag ein iPod Nano, auf den ich Justin Timberlakes neues Album gezogen hatte. Auf dem Weg nach Hause höre ich „What Goes Around ...Comes Around“ in Dauerschleife.
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