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Soziale Medien: Oh Boys!

Sie zwinkern. Sie verdrehen die Augen. Sie schütteln ihr Haar ins Gesicht. Sie singen Playback. Und sie stellen die Vorstellungen von Maskulinität auf den Kopf: Woher kommen die E-Boys, die gerade das Internet erobern?


Erschienen am 9. Februar in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung

und auf faz.net


Der kanadische Youtuber Cody Ko macht alles das, was man von seinem Berufsstand erwartet: Er setzt sich vor die Kamera, lädt ein paar Freunde ein, dann quatschen sie drauflos, machen irgendwelche „Challenges“, kommentieren ihr Leben oder, noch lieber, das Leben anderer Youtuber. Sein beliebtestes Format heißt „That’s Cringe“, in dem er sich darüber lustig macht, was junge Menschen ins Netz stellen – also alles, was so peinlich ist, dass es Fremdscham hervorruft. Zum Beispiel Jungs, die sich schön finden und das Internet daran teilhaben lassen wollen: sogenannte E-Boys.


Nach drei Minuten kommen Cody und seine Freundin Kelsey Kreppel zur Erkenntnis: „Ich bin mir natürlich bewusst, dass sich hier gerade zwei Erwachsene über Kinder lustig machen. Aber ... ich weiß nicht einmal, wie ich das rechtfertigen soll.“ Cody und Kelsey sind Ende zwanzig, in und mit den sozialen Medien aufgewachsen, sie haben dort Karriere gemacht, stets mit ihnen gewachsen sind ihre Followerzahlen. Das hilft ihnen aber auch nicht, um zu verstehen, was auf der unfassbar erfolgreichen App „Tiktok“ so vor sich geht. Und was hinter dem Phänomen steckt, das sich E-Boys nennt.


Wer sind diese Jungs? Die meisten von ihnen sind sehr jung (zwischen fünfzehn und zwanzig Jahren), sehr blass und sehr schön. Sie haben verträumte Blicke und volle Lippen, und, besonders wichtig, volles Haar, das ihnen im Mittelscheitel ins Gesicht fällt, so wie dem Schauspieler Timothée Chalamet, bloß ohne dessen Charisma. Was machen sie? Vor allem tragen sie Kleidung. Irgendetwas zwischen Grunge und dem Skaterlook der Neunziger (Doc Martens, Longsleeves), dem Emo-Look der nuller Jahre (dunkler Nagellack, viele, viele Ketten, gestreifte Shirts) und dem K-Pop-Style (Hoodies, und wichtig: nur ein Ohrring, mit baumelndem Kreuz).


Der Bogen der Tiktok-Videos spannt sich meist zwischen zwei Outfits: ein normales (in dem der Boy in die Schule geht) – Schnitt, Bass – ein cooles (in dem sich der E-Boy zu Hause filmt und unendlich lässig aussieht). Und natürlich sieht der Junge in beiden Versionen fantastisch aus. Die Talente dieser E-Boys beschränken sich darauf, zu zwinkern und die Augen zu verdrehen, ihr Haar noch weiter ins Gesicht zu schütteln, auf ihren Ketten rumzubeißen, mit ihren Fingern über die Stirn zu spielen und die Adern ihrer Hände zu filmen. Und dann tanzen sie eben herum und bewegen die Lippen, oft zu Liedern von Billie Eilish oder Lana Del Rey, meist aber zu den Songs unbekannter Soundcloud-Rapper, deren Textzeilen sie besonders zweckmäßig nutzen können, wie „You look so sexy, you really turn me on, blow my mind everytime I see your face“. Zeilen, die E-Boys „singen“, damit Teenager-Girls dann genau das über sie denken.


Wenn man ihnen dabei so zuschaut, dann ist die Fremdscham tatsächlich sehr groß. Einfach, weil diese Jungs das, was man als Teenager allein vor dem Spiegel gemacht hat, in Videos vor Millionen von Followern machen: Prüfen, wie Outfits und das eigene Lächeln denn eigentlich aussehen – und wie das bei anderen so ankommen könnte. Der Spiegel in den Kommentarspalten gibt natürlich ein direkteres Feedback: „Wie kann man so liebenswert und heiß und nett in einer Person sein?“, fragen dort meist Mädchen. „Thirst Traps“ nennt sich das im Slang – wenn jemand also Selfies oder Clips hochlädt, in denen er oder sie besonders gut aussieht, so gut, dass einem die Spucke wegbleibt und man durstig wird (natürlich nicht nach Wasser). Tiktok, die App der E-Boys, gehört zum chinesischen Technologiegiganten ByteDance. Vor Tiktok hatte es die „musical.ly“-App gegeben, die 2014 auf den Markt gekommen war und deren Prinzip einfach ist: Wer sich anmeldet, kann wenige Sekunden lange Videos hochladen.


Man muss weder gut tanzen noch singen können, nichts Interessantes oder Lustiges zu sagen haben. Man sucht sich einfach einen Liedausschnitt oder ein Filmzitat aus und bewegt passend die Lippen dazu. Und diejenigen, die doch ein bisschen besser aussehen oder tanzen oder ihre Lippen bewegen, bekommen den Zuschlag, also Klicks, im besten Fall „Fame“. Zwei Jahre nach musical.ly brachte ByteDance Tiktok heraus und kaufte musical.ly wenig später auf. Im Mai 2019 wurde die Tiktok-App dann neu aufgelegt. Seitdem gibt es dort alles, was es bei Instagram auch gibt: zusätzliche Filter, Hashtags, Kategorien, Emojis. Drei Viertel der Nutzenden sind unter fünfundzwanzig Jahre alt, darunter die E-Boys und ihre vielen Fans.


Doch auch schon vor Tiktok hatte es E-Boys und auch E-Girls gegeben. Und wie sich deren Bedeutung verändert hat, zeigt, wie verändert heute Geschlechter im Netz wahrgenommen werden. Das „E“ stand damals für „electronic“, heute steht es auch für „emo“, also emotional. In den frühesten Einträgen im „Urban Dictionary“ von 2009 sind E-Girls Mädchen, die auf Gaming-Plattformen mit Jungs flirten. Aufmerksamkeit und manchmal auch Geld wurden da vor allem gegen Bilder getauscht. Dafür wurden die Mädchen in fast jedem Eintrag als „Schlampen“ beschimpft. Die heutigen E-Girls hingegen sind einfach nur Mädchen, die gerne Skateboard fahren und sich wie die Popsängerin Billie Eilish anziehen. Die E-Boys vor Tiktok dagegen waren Gamer, die ihren Frust in Foren abließen, nach besagten E-Girls suchten und dann mit den gesammelten Fotos prahlten. Oder sie trieben sich in den Youtube-Kommentarspalten herum, trollten dort gegen andere Jungs, die ihre Breakdance-Videos hochluden. Jene Jungs, die sich heute E-Boys nennen, wären also ziemlich sicher Opfer der damaligen E-Boys gewesen. Denn die „Softboy“-Attitüde der heutigen Jungs widerspricht dem, was als klassisch maskulin gilt. Man fragt sich, in welche Krise der Androgynität es diese neuen E-Boys stürzen wird, wenn dann doch einmal der Bartwuchs einsetzt und die Wangen nicht mehr so makellos leuchten.


Dass sie ihre Androgynität mit einem solchen Selbstverständnis verkörpern, macht aber deutlich: Die sanften Jungs sind heute mächtig geworden. Auf Tiktok hat ihr Hashtag mehr als zwei Milliarden Aufrufe, etwa genauso viele wie #egirls; das Hashtag „eboychallenge“ hat mit 52 Millionen Einträgen mehr als doppelt so viele Posts wie das weibliche Pendant. Weil das soziale Leben zu einem großen Teil in den sozialen Medien stattfindet, ist nicht mehr unbedingt cool, wer witzig oder souverän oder einschüchternd auftritt, sondern wer sich online gut inszenieren kann. Dafür muss man nicht schlagfertig sein, wichtiger sind hohe Wangenknochen, vorteilhaftes Licht und genügend Follower. Dass diese Inszenierung feminin besetzt ist, scheint zufällig: einfach, weil es vor allem Frauen und Mädchen sind, die so erfolgreich inszeniert werden, die modelhaft-sanfte Pose aber genauso gut für die Zwecke der Jungs funktioniert. Ganz junge Menschen, vor allem in den Vereinigten Staaten, denn dort sind E-Boys am beliebtesten, scheinen den Look der E-Boys – dieses Amalgam aus lauter Außenseiterstilen der letzten Jahrzehnte – dem des klassischen Quarterback-Typs vorzuziehen, wie man ihn aus amerikanischen High-School-Filmen kennt.


Im erwähnten Video des amerikanischen Youtubers Cody Ko wird diese Differenz sichtbar, als sich Cody und seine Freundin Kelsey den Clip eines Jungen vom Phänotyp „Sportler“ anschauen, der versucht, auf den E-Boy-Trend aufzuspringen. Plötzlich steht der Junge dann aber – Schnitt, Bass – oben ohne da. Das Ganze wirkt tatsächlich sehr verzweifelt, und man schämt sich für diesen Jungen noch ein bisschen mehr. E-Boys sind natürlich keine homogene Gruppe. Die einen fotografieren sich in ihren alten Kinderzimmern und schmachten dabei traurig oder sexy oder sexy-traurig in die Kamera. Vermutlich kommt daher das Gerücht, dass es E-Boys gar nicht außerhalb des Internets gebe, weil sie nur selten auf der Straße gesichtet worden sein sollen. Wenn sie sich in der Schule tatsächlich anders anziehen als zu Hause, würde das naheliegen. Aber es würde auch die Frage eröffnen, ob das Internet für softe Jungs vielleicht einen sicheren Raum bietet, um sich so zu zeigen. Die eigentlichen, gefährlicheren Trolle könnten ihnen schließlich auf den Schulfluren begegnen – und es dort vielleicht nicht bei fiesen Kommentaren belassen.


Dann gibt es aber noch die andere, gutgelaunte Sorte E-Boys, die meist mit Artgenossen auf den Balkonen kalifornischer Wohnungen herumtanzen, wie die Gruppe Sway House aus Los Angeles, eine Art Boyband ohne Alben und ohne Konzerte. Unter Vertrag stehen sie bei Talent X, einem Social-Media-Management, das von Tal Fishman und Jason Wilhem gegründet wurde – beides gealterte Youtube-Stars. Ins „Sway House“ ist nun auch der siebzehnjährige Josh Richards eingezogen. Er möchte, überraschend, Schauspieler werden und hat es auch schon in zwei kleine Produktionen geschafft. Nebenher berät er Talent X.


Für Youtuber galt und gilt der Slogan „broadcast yourself“, sie mussten sich also zumindest durch Talente oder kreative Formate beweisen. Formate, die für die Größe eines Laptopscreens gemacht sind. E-Boys unterhalten ihre Zielgruppe aber auf dem Smartphone. Das sind all die jungen Menschen, für die es eine Welt ohne ein solches nie gegeben hat. Die Clips sind so kurz, wie die Displays klein sind, denn je kleiner das Display, desto weniger Narrativ braucht es. Und so reicht den E-Boys das Motto „aestheticize yourself“. Sie setzen sich vor die Kamera, laden nicht mal Freunde dazu ein, und finden es okay, belanglosen Quatsch zu machen. Denn viel mehr wird gar nicht von ihnen verlangt.

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