Drei Sachbücher wollen das ergründen. Zwei geben seltsame Antworten. Einem gelingt es besser.
Erschienen in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung am 1. November 2020
Die Vereinigten Staaten von Amerika, so liest am immer wieder, liegen am Boden. Die einstige Weltmacht sei ihren eigenen Werten – Streben nach Freiheit, nach Glück, Träumen vom besseren Leben – erlegen. Krank und wahnsinnig sind sie nun in den Graben gestürzt. Alles blickt gebannt: Werden sie sich aufhelfen, gesundend den Graben erklimmen, bald wieder aufrecht der Sonne entgegenblicken?
"Wahnsinnig" und "krank", das ist eine zynische Rhetorik. Und eine, die der rechte Fernsehsender Fox besonders gerne nutzt, um den Gegner, die Demokraten, „die Linken“ zu diffamieren. Die Vereinigten Staaten so zu beschreiben, ist also problematisch. Aber eben auch ironisch: Egal wie man sie dreht, Schablonen funktionieren gleich gut. Wie schlimm steht es aber nun wirklich um die Staaten? Wie außergewöhnlich und schrecklich ist all das, was in den letzten Jahren geschehen ist? Drei Sachbücher wollen das ergründen.
Zerzaustes Land?
Für „Im Wahn. Die amerikanische Katastrophe“ sind zwei Deutsche, der Journalist Klaus Brinkbäumer und der Fernsehautor Stephan Lamby, durch die Vereinigten Staaten gereist. Sie haben zahlreiche Orte besucht und sich mit Personen unterhalten, die viel über die Politik der letzten vier Jahre zu sagen haben. Was sie suchten, waren Antworten auf Fragen wie: „Fällt vor den Augen der Bürgerinnen und Bürger die amerikanische Demokratie?“ Und: „Wohin steuert dieses weltmächtige und doch so zerzauste Land?“
Die Autoren möchten, das stellen sie voran, „berichten“, „analysieren“, „mit kritischer Zuneigung begreifen“, wie denn nun „die U.S.A. derart vom Weg abkommen konnten.“ Von „katastrophalen amerikanischen Monaten“ wolle man erzählen. Man ahnt schon: Wer betont, ganz neutral sein will, ist es meistens nicht. Und neutral berichtet wird hier tatsächlich wenig. Das liegt daran, dass die Reise, auf die die Autoren einen mitnehmen, nämlich nicht nur eine geografische, sondern auch eine historische ist.
Manches davon findet sich in Geschichtsbüchern, vieles in ihren Erinnerungen. Teils liest sich das unaufgeregt, detailreich. Oft aber scheint es den Autoren zu gefallen, ihre Leserinnen und Leser durch eine Art Gruselkabinett von Ereignissen, von politischen und sprachlichen Verirrungen zu führen. Und das wäre in Ordnung, wenn sie einen dann aber nicht ständig allein vor den von ihnen eröffneten Bildern stehen lassen würden, mit so bedeutungsschweren Sätzen wie „Gleich elfmal drückte Trump auf ,Retweet‘“. Im Prinzip steht da immer der gleiche Satz: „Den Rest dürfen Sie sich jetzt selbst denken“ – als gebildete Europäer verstehen wir uns kommentarlos, nicht?
Ehrlich gesagt: Nein. Die Frage stellt sich bei der Lektüre immer wieder: Für wen ist das hier eigentlich geschrieben? Für Politikinteressierte werden ganze zehn Mini-Exkurse angeboten (tatsächlich betitelt mit „Wahn und Wahrheit 1. -10.“), in welchen dann das Werk eines Wissenschaftlers auf einer Seite zusammengefasst wird. Soll es ein Buch für jene sein, die nun doch nochmal wissen wollen, was in den letzten Jahren so los war? Sicherlich. Die Zielgruppe, die sich jetzt darüber 400 Seiten anlesen will, dürfte jedoch recht klein sein.
Und die vielen Gespräche? Außergewöhnlich aufschlussreich sind sie nicht. Was daran liegen könnte, dass unter den Gesprächspartnern vor allem Personen wie Jim Acosta, Anthony Scaramucci oder Judd Legum sind, die sich so oder so schon viel äußern und daher wenig Neues erzählen. Beeindruckend ist in diesem Kontext dann aber vor allem, dass die Autoren es tatsächlich geschafft haben, sich für ihr Kapitel „Trauma“ über Rassismus, mit keiner einzigen schwarzen Person zu unterhalten.
Lieber wird (ja, wieder ganz detailliert) die Ermordung George Floyds beschrieben. Dass der amerikanische Politikwissenschaftler Sebastian Gorka in diesem Buch dafür immer wieder seitenweise schwadronieren darf (die Autoren erwähnen, dass sie sich mit ihm am häufigsten trafen, bis dieser schließlich keine Lust mehr auf die deutschen Journalisten hatte), ist daher nicht nur problematisch. Spätestens da zeigt sich, von welchem Interesse die Autoren bestimmt sind: Lieber vorführen als ergründen.
Und das wird noch in einer weiteren Entscheidung deutlich: Bis zum Schluss unterhalten sich die Autoren mit keiner einzigen Politikerin. Kurz wird eine Journalistin zitiert, eine Ärztin interviewt. Ansonsten freut man sich schon darüber, dass Jill Lepore in „Wahn und Wahrheit (4.)“ erwähnt wird. Sie ist die einzige Gesprächspartnerin, die die Autoren besuchen, um sie dann ganz neutral zu fragen: „Ist das Land unrettbar in seinem Wahn gefangen?“ Lepore kann darauf nur all die Elegien zitieren, die sie ständig über ihr Land hört. Demagogie und Xenophobie seien, so Lepore, in den Vereinigten Staaten aber schon schlimmer gewesen. Wobei: Dem Begriff der Katastrophe fand sie „in dem Moment als Kinder von ihren Eltern getrennt und inhaftiert wurden“ doch angebracht. Oder wie die Autoren es für die Leserin zusammenfassen: „Kinder in Käfigen“, Lepore sagt: „Amerikas Katastrophe war da“.
Einer ihrer Prämissen werden sie damit dann doch gerecht: Katastrophale amerikanische Monate wollten sie erzählen. Erzählt haben sie sie. Analysiert und ergründet? Weniger.
Wut auf die Bakterien?
Timothy Snyder war krank. Drei Monate, bis März dieses Jahres, verbrachte der amerikanische Historiker wegen einer schweren Leber- und Blutinfektion im Krankenhaus. „Die amerikanische Krankheit. Vier Lektionen der Freiheit aus einem US-Hospital“ ist sein Tagebuch darüber. Es half ihm, während seiner Krankheit „eingehender über die Freiheit und über Amerika nachzudenken“. Denn Snyder war nicht nur krank. Er war auch „wütend“. Nicht auf Gott, die Ärzte oder diese „unvollkommene Welt“, nein – er war wütend auf die Bakterien, die ihn in diese Situation brachten. Aber: „Ich wütete, also war ich.“
Viele um ihn herum waren nicht wütend und trotzdem da - nämlich im Krankenhaus. Gestresst und abgelenkt setzten sie ihm Nadeln falsch und lasen seine Akte nicht genau. Dem Krankenhauspersonal fehlt die Zeit, schreibt Snyder. Oft auch das Geld. „Anstatt als Einzelne nach Glück zu streben, schaffen wir ein Kollektiv des Schmerzes“. „Die Krankheit“, befindet Snyder, „betrifft uns alle“.
Wer diese alle sind, das ist nicht ganz klar. Amerikanerinnen und Amerikaner, könnte man meinen. Die sind aber bekanntlich nicht alle gleich von „der amerikanischen Krankheit“ betroffen. Und Timothy Snyder – Historiker an einer Elite-Universität, bekannter Autor, Intellektueller – mag in Amerika schwer krank sein und ein krankes Amerika diagnostizieren. Da zu Beginn der Lektüre aber klar ist, dass er dieses Krankenhaus wird lebend verlassen können, um danach ein Buch darüber zu veröffentlichen, macht ihn das jedoch nicht gerade zum idealen Fürsprecher des „kollektiven Schmerzes“ dieses Landes. Im Gegenteil.
Vor allem, weil er dann doch vor allem für sich, also über sich spricht. Über seine Bücherregale (eines ist „Nazideutschland und dem Holocaust vorbehalten“, ein anderes „Studien zu den Konzentrationslagern“); darüber, dass er in Europa gelebt hat (Paris! Wien!); und wer aufmerksam liest, weiß danach, wie viele Sprachen er spricht (mindestens vier). Klar war er einige Male krank (Migräne in Paris, Blinddarm in München), manchmal wurde er besser, manchmal schlechter behandelt. Während er nun im US-Hospital liegt, besucht ihn eine gute Freundin, eine Ärztin. Die wird auch schlecht behandelt. Zwei Krankenpflegerinnen lassen sich rassistisch über sie aus. Eine Gelegenheit, sie als Stimme kollektiven Schmerzes sprechen zu lassen? Braucht es nicht, er hats ja notiert.
Und auch wenn er nicht über sich spricht, spricht er doch über sich: Er wehrt sich, Opioide einzunehmen, die sein Land krank gemacht haben; er versucht Schmerz zuzulassen, den amerikanische Männer sonst nie zulassen dürfen. Beides Gründe, für die hohe Sterberate in den Vereinigten Staaten; beides Gründe, durch die „Herr Trump“ (wie Snyder ihn nennt) an die Macht kommen konnte. Was man in diesem Büchlein über die Vereinigten Staaten erfährt: Sie haben ein schlechtes, da kommerzialisiertes Gesundheitssystem. Die amerikanische Bevölkerung könne erst dann frei sein, wenn sie eines hätte, das einem europäischen entspreche. Für diese Erkenntnisse hätte Snyder nun wirklich nicht krank werden müssen.
Snyder wurde im März entlassen. Es ist schon beeindruckend wie langweilig seine Notizen angesichts der gesundheitlichen Lage und der vielen Toten in seinem Land sind. Vielleicht hätte sich der Genesene nach seiner Entlassung wenigstens ein paar weitere Stimmen des kollektiven Schmerzes notieren können. Es war schließlich März. So nimmt man nun von der Lektüre vor allem mit: Im Hospital lassen sich gut bedeutungsvolle Sätze mit Substantiven schreiben. „Es war dieses Nichts, ‚dieses besondere Nichts‘, wie ich in diesem Tagebuch schrieb, gegen das ich wütete.“ Dabei, Herr Snyder, gäbe es doch so Vieles gegen das man wüten könnte.
Raus aus dem Graben!
Zugegeben, falsch ist das Bild der wahnsinnigen und kranken Staaten nicht. Präsident Trump kann man durchaus als unzurechnungsfähig bezeichnen. Und durch die Pandemie sind deshalb bisher fast eine Viertelmillion Menschen erkrankt und gestorben. Die politische Landschaft ist gespalten. Mehr denn je, wird behauptet. Ob das stimmt, und was dazu geführt hat, beantwortet der amerikanische Politikjournalist Ezra Klein in „Der tiefe Graben. Die Geschichte der gespaltenen Staaten von Amerika“.
Dem Eindruck, dass die politische Landschaft gespaltener denn je sei, setzt Klein erst einmal ein paar Zahlen entgegen: Bei den Wahlen der letzten 16 Jahre erhielten die Kandidaten der republikanischen und der demokratischen Partei jeweils fast die gleichen Stimmen. Frauen, Männer, Weiße, Hispanics, Evangelisten – sie wählten nur um wenige Prozent abweichend stets die gleiche Partei. „Das Überraschende an den Wahlergebnissen von 2016“, so Klein, „ist nicht das, was passiert ist. Es ist das, was nicht passiert ist.“ In den Staaten wählen Wählende, was sie schon immer gewählt haben.
Trotzdem habe sich etwas verändert, denn das politische System sei ein toxisches. Es kapere unsere Werte in einer Weise, „dass wir einander verraten.“ Also ja, der Graben wird weiter. Und dafür findet Klein fassbare Gründe. Es geht weniger darum, dass Menschen „extremer“ werden, sondern dass sich zuvor Unentschiedene stärker sortieren. Das sei jedoch nicht unbedingt etwas Schlechtes. Nein, es war Anfang der Fünfzigerjahre sogar erwünscht. Man sorgte sich, dass die Parteien „viel zu reibungslos“ zusammenarbeiten würden. Wie sollte man sich da bitteschön entscheiden?
Zum Beispiel für eine Partei, die gegen Rassismus kämpft. Das ist der Grund, den Klein als wichtigsten Spalter der Staaten anführt: „Eine Identität wird nur dann in Frage gestellt, wenn sie bedroht ist“, schreibt James Baldwin, den Klein hier zitiert, „die Gegenwart des Fremden, macht dich zum Fremden, und zwar weniger vorm Fremden, als vor dir selbst.“ Und die Gegenwart sieht so aus: Seit 2013 werden in den Staaten mehr nicht-weiße Menschen geboren als Weiße (noch beeindruckender, dass Brinkbäumer und Lamby niemanden gefunden haben). Es studieren mehr Frauen als Männer (zukünftige Jill Lepores?). Mehr Menschen denn je leben atheistisch (klagen Bakterien statt Gott an). Menschen definieren sich, und das nicht nur in den Vereinigten Staaten, daher mehr über ihre Identitäten. Die sind somit politischer denn je.
Und lassen sich am besten in den Medien ausfechten, mit denen sich Klein im zweiten Teil des Buches auseinandersetzt. Er weiß genau, für wen er schreibt („Nichts von dem eben Gesagten gilt natürlich für Sie, liebe Leserin“), und begründet, wieso er die Medien kritisiert – obwohl er von ihnen profitiert. Man kann das als Stilmittel abtun. Damit ist er trotzdem ambitionierter als Brinkbäumer, Lamby und Snyder.
Am schönsten ist aber, dass Klein trocken festhält: Menschen müssen sich mit all dem, der ganzen Politik, nicht beschäftigen. Es gibt Menschen die das müssen. Aber nicht alle. Denn, so zeigen es die Studien die er anführt: Es ist egal, wie viel Zugang Menschen zu Daten und Informationen haben. Sie legen sie ohnehin für ihre Identität aus. Die einen fundierter, als die anderen.
Was zu einer weiteren wichtigen Erkenntnis führt: Vielleicht ist es gar nicht so schlimm, wenn die Vereinigten Staaten polarisiert sind. Es gehe, so Klein, vielmehr darum, diesen polarisierenden Kräften die richtige Form zu geben. Eine die nicht nach der Wahrheit schreit, sondern die Sachlichkeit sucht. Vielleicht eröffnet die sich dann ja als Weg. Sie wissen schon: aus dem Graben.
Klaus Brinkbäumer/Stephan Lamby, „Im Wahn. Die amerikanische Katastrophe“ C. H. Beck, 391 Seiten, 23 Euro
Timothy Snyder, „Die amerikanische Krankheit. Vier Lektionen der Freiheit aus einem US-Hospital“. Übersetzt von von Andreas Wirthensohn, C.H. Beck, 158 Seiten, 12 Euro
Ezra Klein, „Der tiefe Graben. Die Geschichte der gespaltenen Staaten von Amerika“. Übersetzt von Katrin Harlaß, Hoffmann und Campe, 384 Seiten, 25 Euro
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