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Designerin Sinéad O'Dwyer: Form statt Größe

In ihren Designs macht sie unsichtbare Körper sichtbar - und zeigt damit, was in der Modeindustrie immer noch falsch läuft.


Erschienen am 24. März 2020 in der Frankfurter Allgemeinen Quarterly


In den letzten Jahren hat sich die Modeindustrie gewandelt: Während Designer wie

Yves Saint Laurent oder Jean Paul Gaultier in den Neunzigern als avantgardistisch galten,

weil sie schwarze Models über ihre Laufstege laufen ließen oder lieber markante Gesichter

für Kampagnen auswählten, als die, die als “klassisch schön” galten (große Augen, schmale

Nase, Schmollmund), so scheinen diverse Körperbilder nun im Mainstream der Industrie

angekommen zu sein: Auf den Fashion Weeks im Herbst liefen laut The Fashion Spot 41,5

Prozent farbige Models. Vor fünf Jahren waren es gerade mal 17 Prozent gewesen. Und

trotzdem: Die meistgebuchten und bestbezahltesten Models sind in der Regel immer noch

weiß. Und auch Plus-Size-Models wurden so viele wie nie zuvor gebucht. Allerdings

machten sie nur knapp über ein Prozent aller Fashion-Week-Models aus. Die großen

Modehäuser brüsten sich damit, dass sie nun Diversitätsbeauftrage angestellt haben -- nur

dass beispielsweise Chanel dafür eine weiße, privilegierte Frau anheuerte. Und auch die

Chefsessel der Designer wurden mit Virgil Abloh und Olivier Rousteing schwarzen Männern

zugänglich gemacht, denen früher der Zugang zur Pariser Modewelt noch verschlossen

geblieben wäre. Sie sind aber bisher noch die Ausnahmen.


Erkennt die Modeindustrie Diversität also wirklich an? Oder reagiert sie nur auf den

Druck einer aktiven Öffentlichkeit in den Sozialen Medien? Werden farbige, individuelle,

eingeschränkte Körper wirklich repräsentiert? Oder wird nur versucht, Kapital aus ihnen zu

schlagen? Ist Diversität nur ein Trend? Und wenn ja: wäre das schlimm, wenn dabei ein

differenzierteres Schönheitsideal zur Norm werden könnte?


Die Norm, das ist bisher ein Körper, der in seinen Maßen so schön wie zufällig wirkt:

Neunzig, sechzig, neunzig. Ein Ausgangsmaß, das für industriell hergestellte Mode

festgelegt wurde, um auf Masse zu produzieren. Wo sich in der Maßschneiderei Kleidung

noch an den Körper anpasste, so mussten und müssen sich die Körper an die industrielle

Kleidung anpassen. Die Variationen beschränken sich darauf, von diesem

Neunzigsechzigneunzig-Körper in gleichmäßigen drei Zentimeterschritten abzuweichen --

allerdings auch nur bis zu einer Normgröße, die meist bei Zweiundvierzig endet. Wer also

mehr als zwanzig Zentimeter abweicht, für die oder den wird es schwierig, überhaupt etwas

Modisches zu finden. 


Dass Menschen, die Konfektionsgrößen tragen, somit automatisch auch einen ihnen

fremden Körper tragen, inspirierte die irische Designerin Sinéad O’Dwyer zu ihrer ersten

Kollektion, mit der sie ihr Studium am Royal College of the Arts in London abschloss. “23:19:26” (also 115 zu 95 zu 130 Zentimeter) hieß diese; das sind die Maße ihrer Muse und guten Freundin Jade Bruce-Linton. Jades Körperform machte O’Dwyer zu einer tragbaren Skulptur, an den Seiten und am Hals in Metallkanten eingefasst, die O’Dwyers Vater (Silberschmied von Beruf) anfertigte: “Die Idee für meine erste Kollektion war, sehr wortwörtlich die Leute dazu zu bringen, darüber nachzudenken, was sie eigentlich tragen: nämlich nicht ihren eigenen Körper, sondern den von Models, deren Körper als Mustergröße ausgewählt wurde. Es ist absurd, dass sich Menschen schlecht fühlen, wenn sie Kleidung für sich kaufen wollen, die ihnen dann nicht passt, weil sie für die Proportionen eines fremden Körpers gemacht sind. Wer bestimmte Designer trägt, trägt immer einen fremden Körper.” 


In ihren Designs treten also unsichtbare Körper hervor: Zum einen, jener

unsichtbaren, kindlich-schmale Ausgangskörper, den jede Person mit sich trägt, die schon

einmal von der Stange gekauft hat. Zum anderen, greifbar, der unasketische, konvexe

weibliche Körper. Er wird in asymmetrischen Hosen und Oberteilen mit Brustwölbungen, die

aus Fiberglas bestehen und Ritterpanzern ähneln, selbstbewusst nach außen getragen --

und so jener Industrie entgegen gehalten, die ihn zu ignorieren versucht, weil es

wirtschaftlich einfacher scheint, dass dieser Körper sich der Mode anpasst und nicht

umgekehrt. Er ist immer noch ungewohnt, der Blick auf diesen nicht-schmalen, weiblichen

Körper.


Helles Grün und Violett und Gelb leuchten einen ungerührt durch das Material dieser

weichen Körperrüstungen an. Das Material, das durch die silikonartig-milchigen Tops

durchscheint, ist Lingerie aus Seide. Wenn Lingerie enthüllt und reizvoll verdeckt, so kehrt

O’Dwyer ihr Prinzip um: “Ich wollte, dass der Körper die Kleidung umfasst, und diese

wiederum den Körper. Ich wollte, dass die Oberteile das Gegenteil tun, von dem, was

Korsetts tun.” Und so werden sie im wahrsten Sinne schlicht einverleibt.

Aber wie das mit dem Spiel der Ironie so ist, kann die Doppeldeutigkeit solch eines

doppelten Körpers auch zynisch wirken. Bei “23:19:26” wirkt es auch befremdlich, wenn ein

schlankes Model den Abguss einer voluminöseren Frau trägt. Könnte man das nicht auch als

transgressive Aneignung deuten? “Meine Arbeit hat nicht die Intention, irgendeinen Körper

zu nehmen und daraus dann ‘so ein Fashionding’ zu machen. Ich wollte darauf aufmerksam

machen, was wir uns eigentlich unterziehen, wenn wir Industriemode kaufen.” 


O’Dwyers Kritik ist keine neue, dessen ist sie sich bewusst: “Natürlich können wir

nicht immer maßgeschneiderte Sachen tragen, auch wenn das eine nachhaltige Lösung

wäre.” Sie sieht in ihren Designs für das Problem der Passform auch keine Lösung --

vielmehr funktionieren sie als künstlerisches Statement, wenn sie ihren Models jeglichen

Körpertyps ein Oberteil anzieht, das nur für eine einzelne Größe, die Größe ihrer guten

Freundin Martina Dolcimascolo, geschaffen wurde. “Für meine neue Kollektion ‘Martina’

wäre es schwer gewesen, zwölf Models zu finden, die die gleichen Proportionen und den

gleichen Körperbau wie sie haben. Das ist die schwierige Frage: Wie können wir Kleidung

designen, die allen passen könnte?” 


Sie selbst sieht sich nicht imstande, diese Frage befriedigend zu beantworten.

Gerade in ihrer Massenuntauglichkeit geben ihre Stücke aber doch eine simple Antwort

darauf: Wenn es genauso unsinnig ist, dass Milliarden von Menschen ihre Körper an

Konfektionsgrößen anzupassen versuchen, wie, dass sich zwölf Models finden lassen,

denen Martinas Maße genau passen würden, dann könnte man sich einfach vom Ergebnis

der Gleichung verabschieden und sagen: vielleicht muss Kleidung auch nicht gut passen.

“Das war Teil der Idee. Ich habe so viele Bilder von Freunden, auf denen sie sich bewegen --

und ihre Kleidung dann eben nicht mehr so schön fällt oder passt, wie es gedacht war. Dass

etwas nicht gut passt, hat etwas Humorvolles, womit sich arbeiten lässt.” 


Das vermeintlich Lächerliche schlecht sitzender Kleidung inszeniert sie in dem

Kurzfilm zu ihrer neuen Kollektion “Martina” besonders offensiv. “Wear Me Like Water” heißt er, gedreht hat ihn O’Dwyer gemeinsam mit der Fotografin und Regisseurin Steph Wilson: Vier Frauen lassen sich im Pool treiben, sonnen sich, springen in die Luft, und ins Wasser. Sie werden gefilmt in Slow-Motion und Nahaufnahmen. Das könnte alles sehr voyeuristisch sein, und ließe sich nur allzu leicht durch einen männlichen Blick betrachten, der in so vielen Model-am-Pool-Parfumwerbungen bedient wird.


Die Models aber lassen ihre schwarzen, weißen, dicken und dünnen Körper mit

geschlossenenen Augen ungestört von Wasser und Sonnenlicht umfließen. Sie alle tragen

durchsichtige Oberteile, geformt wie ein weiblicher Torso,  hindurch schimmern, wie

eingefroren, neonfarbene, knappe Bikinis. Gerade die knappe Bademode der Achtzigerjahre,

auf die O’Dwyer anspielt, schenkt einem Körper, der nicht von Aerobic und sparsamer

Ernährung geformt wurde, nichts. So werden die Stofffetzen einfach Teil des Torsos, das

Höschen schwebt plötzlich auf Bauchhöhe, das Bustier verdeckt nicht mehr viel. Den Models

im Film könnte nichts egaler sein. Ihre Kollektion so zu inszenieren, war für O’Dwyer

“naheliegend” -- es sollte “eine kleine Parodie auf den sogenannten Bikinibody” sein.


“Trage mich wie Wasser”, ein Titel, der im Deutschen eigentlich noch besser

funktioniert. “Den Namen haben wir gewählt, weil uns gefällt, wie Wasser den Körper

umschließt und umformt. Das Element passt zu meiner Arbeit.” Das meint O’Dwyer nicht nur, weil der menschliche Körper natürlich zum Großteil aus diesem besteht. Es geht ihr darum, dass der Körper ähnlich vielfältige Formen annehmen kann, im verschiedenen, wie im selben: “Selbst wenn der Körper sich nicht physisch ändert, so fluktuiert er doch immer in der eigenen Wahrnehmung. Ich habe lauter verschiedene Formen von mir selbst im Kopf,

genauso wie jede Person eine andere Wahrnehmung von mir hat. All diese Versionen

schichten sich übereinander. In meiner Arbeit versuche ich sie sichtbar zu machen.” 


Wenn ihre Körperbild fluid ist, gilt das dann aber auch für Geschlecht? Also: Könnten

auch Männer ihre Sachen tragen? “Es ist merkwürdig, ich werde das ständig gefragt. Männer

tragen meine Sachen, und ich finde das in Ordnung, solange es im richtigen Kontext

geschieht. Meist ist das eine Fotostrecke. Mir ist nur wichtig, eben weil meine Arbeit eine

politische Dimension hat, dass sie nicht als Art Neuheit ausgebeutet wird.”

Um dem Vorwurf, im wahrsten Sinne anmaßend zu sein, zu entgehen, stehen ihr

deshalb gezielt nur enge Freundinnen Modell: “Es wäre merkwürdig gewesen, hätte ich Form

von jemandem genommen, den ich nicht gut kenne. Offensichtlich weiß ich die Formen von

Jade und Martina zu schätzen, weil ich sie kenne. Ich kenne die Geschichten über ihre

Körper, sie haben mir von ihren Erfahrungen erzählt. Das gibt meinen Arbeiten erst ihre

Bedeutung -- sie haben sich selbst eine Meinung darüber gebildet. Außerdem ist es mir

wichtig, dass sie, wenn sie möchten, auch selbst zu Wort kommen können und Teil des

Dialogs sind.”


Dass ihre Arbeiten sehr persönlich sind und aus ihrem direkten Umfeld inspiriert sind,

ist O’Dwyer wichtig. 2017 verbrachte sie einige Monate in Südkalifornien, in der sogenannten

“The Savage Ranch”, die die Drag-Künstlerin Love Bailey betreibt. Die Ranch ist ein Kollektiv

für queere Kunstschaffende. Welchen Einfluss hatte das auf ihre Arbeit, in diesem speziell-

queeren Raum zu leben? “Queere Räume sind, wenn auch nicht immer, oft non-kommerziell.

Die Menschen, die dort arbeiten, leben oft außerhalb dessen, was die Gesellschaft als

‘normal’ oder ‘ideal’ ansieht. Also muss man dort genau das nicht sein. Sie helfen einem,

anders, neu zu denken.” 


Nun hat in den letzten Jahren aber auch der Kommerz das Queersein für sich

entdeckt, wodurch sich verändert hat, was als “Norm” gilt und was als “irregulär”. O’Dwyer

kann das aber nur teilweise erkennen: “Alle wollen Kapital aus beispielsweise diversen

Models schlagen. Und ja: man sieht mehr Menschen verschiedenen Hintergründen, Größen,

Ethnien oder mit körperlichen Einschränkungen. Aber ich sehe nicht, dass große Firmen

Geld dafür in die Hand nehmen, um für die Menschen, die diese Models vertreten, auch

wirklich Produkte zu entwickeln. Was bringt es, wenn eine Person aufgrund einer Kampagne

in den Laden geht, dann aber nichts passendes findet?”


Nur in einem Punkt sieht sie es positiv, wenn der kommerzielle Mainstream mehr

Menschen repräsentiert: “Hoffentlich verändert das, wie sich die jetzt aufwachsende

Generation Kinder selbst wahrnimmt. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich mich selbst als

Kind irgendwo vertreten gesehen hätte. Aber wenn sich heutige Kinder von vornherein als

wertige Menschen erkennen, weil sie sich in einer Zeitung und einer Serie sehen, dann ist

das gut.” Ihre eigenen Sachen sieht sie aber nicht als etwas, das irgendwann als normal gelten könnte. Bisher wurden sie vor allem von Sängerinnen wie Beth Dito oder Kelsey Lou

getragen. Auch wenn etablierte Medien ihre Designs bereits für sich entdeckt haben,

beispielsweise wenn der amerikanische Playboy ihre Stücke für eine Strecke an einem

nackten Model inmitten einer Fußgängerzone fotografierte, oder sie mit Love Bailey für die

Drag-Queen Aquaria ein Outfit für RuPaul’s Dragrace designte, dann geschieht das immer

unter dem Vorzeichen des “Nicht-Normalen”, der Abweichung. Für O’Dwyer ist das wichtig:


Ihre neue Kollektion ist zwar prêt-à-porter, sie will ihre Sachen aber bisher nur auf Anfrage

verkaufen. “Die Modeindustrie ist zu schnelllebig, und ich will mich nicht beeilen müssen, um hinterherzukommen. Das würde meine Arbeit beenden. Wer meine Sachen tragen möchte, soll das tun, aber bitte nur, wenn sie sich gut anfühlen.” Als Outfit, das wie der Körper nicht der Norm entsprechen muss, und vielleicht gerade deshalb passt.

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