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Kardashians: Alles absolut echt

Die Kardashians haben es in den letzten zwölf Jahren von "Trash-TV" zu Amerikas "Royalty" geschafft. Wie haben sie das geschafft?


Erschienen am 15. September in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung

und auf faz.net


Kris Jenner ist 63 Jahre alt, sie sitzt konzentriert vor dem Computer in ihrem Büro, die dick-

gerahmte schwarze Brille auf der operierten Nase. Ihre Tochter Kim Kardashian fragt, woran sie schon wieder arbeite. Sie mache sich Gedanken, was mit ihr passiere, wenn sie stirbt. Sie habe gehört, man könne die Asche des Leichnams zu einem Diamanten pressen lassen, und sie wolle nun wissen, ob man daraus auch sechs Diamanten machen könne – einen für jedes ihrer Kinder.


Ihre Kinder, das sind Kourtney, Kim, Khloé, Robert, Kendall und Kylie. Samt Mutter besitzen sie ein Vermögen von etwa 1,4 Milliarden US-Dollar – die jüngste, Kylie, deren Make-up-Firma etwa neunhundert Millionen Dollar wert ist, ist die Reichste des Clans; sie zierte dieses Jahr, im Alter von 21 Jahren, das Cover des Magazins „Forbes“. „America’s Women Billionaires“, Amerikas weibliche Milliardäre, war der Titel.


Zwölf Jahre hat Kris Jenner gebraucht, um mit ihren Töchtern dieses Vermögen anzuhäufen – zwölf Jahre sind vergangen seit der Grillparty im Garten ihrer Calabasas-Villa in Los Angeles, um die sich die erste Folge der Reality-TV-Show „Keeping up with the Kardashians“ drehte. Es war Ryan Seacrest, Moderator von „American Idol“ und TV-Produzent des Senders E! Entertainment, der Kris Jenner damals vorschlug, ein Barbecue zu ihrem Hochzeitstag zu veranstalten: Er werde ein Kamerateam vorbeischicken, und wenn das Material gut sei, dann könne man weiterverhandeln. „Golden“ soll er das Rohmaterial genannt haben. Ob das wirklich so abgelaufen ist, das wissen nur die beiden; der Gründungsmythos verhält sich zur Wahrheit, wie es das Format Reality-TV eben auch tut: Ganz unecht ist das alles nicht, ein bisschen offensichtlich künstlich muss es aber sein. Pure Realität unterhält nicht.


Dass diese Geschichte vermutlich nicht ganz wahr ist, könnte man zumindest daraus schließen, dass sich besagte erste Folge um einen Skandal dreht, der so simpel und gleichzeitig so medienwirksam ist, dass böse Zungen behaupten, Kris Jenner habe ihn selbst provoziert: Kim Kardashian, Tochter des Anwalts Robert Kardashian, hatte ein Sexvideo mit ihrem damaligen Freund, dem R-’n’-B-Sänger Ray J, gedreht. Und – wie es das Schicksal bei Sexvideos von Sternchen Anfang zwanzig so will – es wurde veröffentlicht. „Warum hast du das getan?“, fragte Tyra Banks in ihrer Talkshow Kim Kardashian, und man ist sich nicht sicher, was genau sie meint: dass Kim das Video gedreht hat; oder dass sie es womöglich selbst verbreitet habe. Dass Kim damals die „beste Freundin“ und persönliche Einkäuferin von Paris Hilton war, die durch einen ganz ähnlichen Skandal auf sich aufmerksam gemacht hatte, tat sein Übriges für diese Theorie.


1,4 Milliarden US-Dollar hat dieser Skandal dem Kardashian-Clan eingebracht. Und, glaubt man dem Gerücht, dass Kris Jenner dies alles geschickt eingefädelt hat, um eine mittlerweile 16 Staffeln umfassende Reality-TV-Show zu lancieren, dann stellt sich die Frage, ob diese sechs Frauen nicht womöglich feministischer sind, als sie es selbst je für sich behaupten würden: Kim und Kris haben sich mit diesem Skandal selbst ermächtigt: Was für eine erbärmliche, vom Internet mit Pornos und Skandalen übersättigte Gesellschaft giert nach einem weiteren zehnminütigen Fummelclip einer halb-bekannten Anwaltstochter? Und zwar so heftig, dass sie sich daraufhin eine ganze Show über die Protagonistin und ihre Familie ansieht? Glaubt man der üblen Nachrede, dann ist Kris Jenner eine sarkastische, gerissene Geschäftsfrau, die zur richtigen Zeit am immer richtigen Ort Los Angeles lebt und sich lachend all das Geld genommen hat, das diese Gesellschaft ihr für einen so langweiligen Skandal – eine Frau, nackt – entgegenwarf. Welche Frau will die Gesellschaft schon ändern, wenn man von ihr so verdammt gut profitieren kann?


Aber so einfach ist es mit dem Geldverdienen bei den Kardashians natürlich nicht: Angefangen mit ihrer Bekleidungskette „Dash“, zehn Spin-offs der eigenen Show („Kim & Khloé take Miami“, „Khloé & Kourtney take the Hamptons“ ...) über Parfums, Merchandise, abenteuerlich gut bezahlte Gastauftritte und Instagram-Postings, Werbeverträge, Apps, Handyspiele, Immobilien, Bücher, Magazincover – man kann Kim und ihren Schwestern kaum vorwerfen, sie wären nicht tüchtig. Ganz abgesehen davon, dass alle Geschwister außer Kendall während dieser zwölf Jahre selbst Eltern geworden sind. Zehn Enkel hat Großmutter Jenner – sechs davon sind Mädchen.


Das passt gut, denn im Kardashian-Clan herrscht das Matriarchat. Der einzige Bruder, Robert Jr., ist mit einem Vermögen von zehn Millionen Dollar mit Abstand der Ärmste unter den Geschwistern. Auch er hat einmal ein Spin-off bekommen (mit seiner damaligen Freundin, der ehemaligen Stripperin Blac Chyna); das wurde schnell wieder abgesetzt. Auch besitzt er eine Sockenmarke, viel mehr weiß man aber nicht von ihm: außer dass er irgendwann stark übergewichtig wurde und sich in eine kleine Villa zurückzog, die seine Mutter ihm gekauft hatte.


Über das Verhältnis der Schwestern zu ihren Männern gibt es einen fiesen Witz: Kourtney, Kim und Khloé seien der einzige „KKK“-Clan, der schwarze Männer „dulde“. Obwohl der Vater von Kourtneys Kindern, Scott Disick, weiß ist (so weiß, dass er sich bei einem Besuch in Großbritannien einen englischen Adelstitel kaufte), dateten Kim und Khloé bevorzugt schwarze Football-Profis und Rapper, die zwar selbst nicht arm sind, aber eben nicht so reich wie die Kardashians. Sogar Kanye West, Kims Ehemann und der erfolgreichste unter den Kardashian-Männern, hat hundert Millionen weniger als seine Frau – als einer der erfolgreichsten Musiker mit mehr als sechzig Millionen verkauften Tonträgern. In einer Folge, in der die Familie West Chicago besucht, fragt Töchterchen North ihre Mutter, warum sie von all den fremden Menschen fotografiert würden. „Papi ist ein Sänger, Performer, Künstler“, antwortet Kim. „Und Mami . . . hat so viele Talente, dass ich gar nicht weiß, wo ich anfangen soll.“


Die Kardashians haben keine Talente – das wurde ihnen häufig vorgeworfen. In Barbara Walters’ Talkshow wirft die Moderatorin den drei ältesten Schwestern dies direkt an den Kopf. Nun, womit verdienen sie denn eigentlich Geld? „Sex sells“, beantwortet sich jeder selbst, der das anschaut, und ja, die Kardashians haben dieses Geschäft perfektioniert. Kim fing als Erste damit an, ihren Hintern unnatürlich vergrößern zu lassen (in einer Folge lässt sie ihren Po röntgen, nachdem sie Schönheits-OP-Gerüchte über sich „entdeckt“ – Ergebnis: alles hundert Prozent echt!); und zwar so unnatürlich groß, dass man ihn und sie googeln muss, weil man es sonst nicht glauben kann.


Ihre hyperfeminine, hart antrainierte Figur hat sie gleich für Parfumflaschen abgießen lassen. Auf ihrem Instagram-Profil hat sie ein Foto ihres Wohnzimmertisches hochgeladen: da liegt auf dem weißen Marmor neben ihrem Selfie-Fotoband prominent Nabokovs „Lolita“. Es sei dahingestellt, ob sie den Roman wirklich gelesen hat. Sie ist das Gegenteil von Nabokovs „Lolita“ Dolores: Sie ist erwachsen, sie ist glatt und rund und perfekt. Sie will begehrt werden, kontrolliert verführen, und weil sie so unnahbar ist – die reine Projektion –, besitzt sie die Macht im Spiel zwischen männlichem Begehren und weiblicher Inszenierung. Das ist keine neue Kunst – wohl ist es aber eine Kunst, daraus 350 Millionen Dollar zu machen. Was ist das also für ein Frauenbild, das Kim im Namen ihrer Familie im wahrsten Sinne verkörpert? Ist es wirklich so anachronistisch, wie es erscheint?


Schließlich macht sie Werbung für Diätpillen, weshalb ihr vorgeworfen wurde, ein schlechtes Vorbild für Mädchen und Frauen zu sein. Und teils ist sie so stark geschminkt, dass sie des „Blackfacing“ beschuldigt wurde. Kim zeigt sich stets reuig, zurückhaltend und respektvoll. Bilder werden gelöscht, Produktnamen geändert, Besserung versprochen. Kim ist verheiratet mit einer progressiven Öffentlichkeit, aber sie hat gelernt, dass dieser am besten zu begegnen ist, indem sie sich verhält wie eine Hausfrau gegenüber ihrem Ehemann in den Fünfzigern. Das mag berechnend und devot wirken; vielleicht ist das aber auch nur der perfekte Umgang mit den sozialen Medien.


Die sozialen Medien haben es den Kardashians letztendlich ermöglicht, die Deutungshoheit über sich zu gewinnen, auch wenn es darum geht, ihre eigene Reality-TV-Show zu produzieren. Während andere Formate die Unsitte der nuller Jahre beibehalten haben, ihre Protagonisten bloßzustellen, vorzuführen, zu manipulieren, hat sich „Keeping up with the Kardashians“ vom eigenen Genre abgewandt: Es dient nur noch dazu, die Dinge aus ihrer Perspektive zu erklären, nachdem diese schon Monate zuvor in den sozialen Medien inszeniert und diskutiert wurden. Und weil sich die Kardashians gern ironisch inszenieren – beispielsweise, wenn sie sich verkleiden und an einer Touristentour durch Los Angeles teilnehmen, nur um an jeder Ecke zu fragen, wo denn die „Kartrashians“ leben und was die überhaupt den ganzen Tag machen würden –, sind sie zu „America’s Sweethearts“ geworden, die Fans veranlassen, sich gegenseitig zu fragen: Und wer ist deine Lieblings-Kardashian?


Für ihre Beliebtheit tun die Kardashians viel; für ihren Reichtum aber verkauften die Kardashians letztlich alles – nicht nur Materielles, eine Marke, ihren Namen, sondern jegliche Privatsphäre. Die eigene, was in Ordnung ist, aber eben auch die ihrer Kinder. Kendall und Kylie, die Töchter aus Kris Jenners zweiter Ehe mit dem ehemaligen Olympiasieger Bruce Jenner, die nach der Geschlechtsumwandlung Caitlyn Jenner heißt (ohne „K“!), haben ihre Pubertät vor den Augen von Millionen Zuschauern durchlebt. Beide äußerten mehrmals, wie sehr sie darunter gelitten hätten, dass ihre Klassenkameradinnen, ihre Freunde, ihre Bekannten, alle wussten, wie sie wann aussahen, was zu Hause los war (ob gespielt oder nicht); und wie sie sich niemals aussuchen konnten, ob sie dieses Leben im Rampenlicht überhaupt wollten. Kendall, die heute als eines der bestbezahlten Models arbeitet, litt am Anfang ihrer Karriere unter dem Stigma ihrer Reality-TV-Familie – wer Chanel kaufen möchte, möchte dies ja nicht von „Trash-TV-Royalty“ tun. Im doppelten Sinne Luxusprobleme. 2015 adelte Karl Lagerfeld sie trotzdem, als sie die Frühjahrsshow des Modehauses im Brautgewand schließen durfte.


Besonders bitter ist es bei Kourtney, der ältesten der Schwestern. Sie ist die Einzige, die studiert hat, Theater und Spanisch, und sie war die Einzige, die damals den Vertrag mit Ryan Seacrest nicht unterschreiben wollte, obwohl oder weil sie davor schon einmal in einer Reality-TV-Show aufgetreten war. Damals war sie 28 und schon einige Zeit mit ihrem Freund „Lord“ Disick zusammen. Im Laufe der Show äußert sie immer wieder Bedenken: „Weißt du, woran ich gerade denke?“, fragt sie ihn. „Biologisches Gemüse. Auf eine Farm ziehen. Deinen Nachnamen ändern.“ Sie ist die Erste, die Kinder bekommt. Vor laufender Kamera zieht sie ihren ersten Sohn Mason aus sich heraus. Mason ist heute neun Jahre alt. Die erste Minute seines Lebens ist als eine von vielen Minuten „Kardashian-Life“ über amerikanische Fernseher geflimmert.


Das ist der Preis, den Kris Jenner zahlt, der Deal, den sie vor zwölf Jahren eingegangen ist, als sie den Vertrag mit Seacrest unterschrieb. „Der Teufel arbeitet hart, aber Kris Jenner arbeitet härter“, spottet das Internet anerkennend über den „Momager“. Ein Grund, warum sie der amerikanische Comedian Benito Skinner immer wieder als weiblichen Teufel im roten Trainingsanzug mimt, die sich Wodka auf Eis trinkend heimlich darüber freut, wenn herauskommt, dass Khloé mal wieder von ihrem Freund betrogen wurde.

Eigentlich kann man aus der Asche eines einzelnen Leichnams maximal fünf Diamanten pressen. Wenn es aber jemand schaffen sollte, daraus auch sechs zu machen, dann ist es mit Sicherheit Kris Jenner.

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