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Zadie Smith: Geister der Vergangenheit

Zadie Smith hat ihren ersten historischen Roman geschrieben. In „Betrug“ schreibt sie gegen die Nostalgie der Briten an – und erzählt diskret auch ihre eigene Geschichte.


Erschienen in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung am 17. Dezember 2023


Es war eigentlich unvermeidlich, dass Zadie Smith doch noch einen historischen Roman schreiben würde. Zum einen, wie sie im Magazin „The New Yorker“ sagte, weil jede Autorin, die eine Zeit lang in England lebe, das Genre irgendwann bediene, „ob sie wolle oder nicht“. Zum anderen weil sie in dem historischen Fall, auf den sie vor elf Jahren stieß und um den sich ihr neuer Roman „Betrug“ dreht, kaum einen besseren Stoff hätte finden können, um die Themen, mit denen sich die 48 Jahre alte Britin bisher in der Gegenwart beschäftigte – Klasse, Hautfarbe, Geschlecht, Ruhm, England –, historisch zu verhandeln.


Es ist das Jahr 1873, und ein Mann steht vor Gericht, der behauptet, Sir Roger Tichborne zu sein. Dieser Tichborne galt als bei einer Überseereise verschollen. Auf ein Gesuch seiner Mutter meldet sich ein Mann aus Australien, doppelt so breit wie ihr Sohn, ohne Bildung und mit starkem Akzent. Sein Zeuge: ein einstiger Diener Tichbornes, Andrew Bogle, der aus Jamaika stammt. Dass es sich bei dem Australier um einen Hochstapler handelt, ist allen Beteiligten bewusst. Um die Wahrheit, das wird schnell deutlich, geht es hier auch nicht. Die beiden Charaktere verkörpern, was England auf dem Gewissen liegt: Der eine gehört zu den nach Australien abgeschobenen Kriminellen, der andere war ein Sklave.


Der reale Fall war damals ein Medienspektakel, das in Zeitungen, Karikaturen und Versammlungen inszeniert wurde – bis er schließlich als Klassenkampf im Gerichtssaal endete. Hinter „dem Anwärter“ aus Australien versammelt: die Londoner Arbeiterklasse. Die Richter: Englands Aristokraten. „Indes saß direkt vor dieser ‚Bühne‘, mit Blick zu ihr, eine Anzahl austauschbarer, perückenbewehrter Gerichtsschreiber und Anwälte, zu einem akkuraten Halbkreis angeordnet wie im Orchestergraben, und die Schaulustigen drängten sich in zwei großen ‚Logen‘ im Parkett.“ Der Prozess wird im Roman zum Schauspiel, ein nur zu offensichtliches Bild, das sich bis in die Gegenwart verschärft hat, wenn live übertragene Gerichtsprozesse zu Massenveranstaltungen werden.


Touchet ist der erzählerische Anker


Eine der Beobachterinnen im Parkett ist Eliza Touchet. Sie ist Schottin, verwitwete Cousine des Schriftstellers William Ainsworth und Haushälterin in dessen Anwesen in Kilburn, damals noch ein vornehmes Londoner Viertel. Ainsworths größter Erfolg „Jack Sheppard“ (besser verkauft als „Oliver Twist“) liegt schon Jahrzehnte zurück. Längst hat ihn Charles Dickens überholt, der, wie William Makepeace Thackeray, immer wieder Gast im Ainsworth-Haus ist, wo über die Belange der Armen und Reichen, über die Abschaffung der Sklaverei, Großbritannien und dessen Platz in der Welt gesprochen wird.


Touchet ist der erzählerische Anker in der fragmentiert erzählten Geschichte, die sich über etwa vier Jahrzehnte erstreckt. Über die historische Eliza Touchet konnte Zadie Smith am wenigsten recherchieren – was an der gesellschaftlichen Randstellung einer Haushälterin jener Zeit liegt –, sie dafür umso mehr als fiktive Figur anreichern. Mit trockenem Witz verfolgt Touchet die Gespräche der werten Herren um sie herum, beteiligt sich mit überlegener Schlagfertigkeit an den Diskussionen. Und gewinnt sie auch, wenn oft auch nur heimlich, in den Augen der Leser, die ihre Gedanken verfolgen können.


Man fragt sich, woher die selbstbewusste Rechtschaffenheit dieser Frau kommt. Der Plot erklärt, es sei Frances gewesen, Ainsworths verstorbene Ehefrau und Liebhaberin Elizas, die das „schemenhaft formlose Misstrauen hinsichtlich der Versklavung von Menschen, das Mrs. Touchet empfand, in brennende Abscheu“ verwandelt, ja gar eine „Revolution“ in ihr angezettelt habe. Eliza wirkt zwar an einigen Stellen wie ein Sprachrohr der Autorin Zadie Smith, eine überlegene Instanz, die sich aus der Zukunft etwas gewagter über Touchets Zeitgenossen hermachen kann, als es der Haushälterin selbst möglich gewesen wäre. Aber vielleicht ist das auch nur ein Missverständnis: Warum sollte es im vermeintlich prüden Viktorianischen Zeitalter nicht auch geistreiche, bisexuelle Haushälterinnen mit stark ausgeprägtem Gerechtigkeitssinn gegeben haben?


Offensichtliche Parallelen


Smith stellt in „Betrug“ aber nicht nur infrage, wie Frauenfiguren dieser Zeit beschrieben oder wahrgenommen wurden. Sondern auch, wie dieses Zeitalter allgemein im Gedächtnis der Briten aufbewahrt ist. Warum wird vor allem der Kriegshelden und Könige gedacht, fragte Smith kürzlich in einem Interview – und nicht etwa der Erfolge der politischen Bewegungen der Arbeiterklasse? Dass Königin Victoria auf mehr als fünfhundert Seiten von „Betrug“ nur dreimal beiläufig erwähnt wird, kann man als ironische Auslassung verstehen.


Warum aber den Tichborne-Fall zum Anlass nehmen, um von sozialen Bewegungen des 19. Jahrhunderts zu erzählen? Ein Fall, der weder erfolgreich für „den Anwärter“ ausging noch für Bogle, den Sympathieträger dieses Romans? Ein Fall, der zudem auf einer Lüge basiert? Die Parallelen zu heutigen populistischen Bewegungen in Großbritannien und den Vereinigten Staaten, wo Smith lange lebte, sind offensichtlich (die Tichborne-Anhänger nennen sich „Narren und Fanatiker“, eine Beleidigung als Selbstbeschreibung, ähnlich wie die Anhänger Trumps, die sich selbst als „Basket of Deplorables“, als Haufen Erbärmlicher bezeichneten).


Doch auch wenn rechter wie linker Populismus nach gleichen Mechanismen funktionieren mag (als Agitation und Selbstverständigung), geht der Vergleich mit Trumps Anhängern nicht auf. Als Referenz führt Smith den Fall O. J. Simpson von 1994 an. Für viele schwarze Amerikaner ging es damals weniger darum, ob der Footballspieler seine Frau nun ermordet hatte oder nicht – sondern darum, wie das Justizsystem in den Vereinigten Staaten Schwarze benachteiligt. Angesichts der Machtlosigkeit findet sich in einer Lüge zwar keine Gerechtigkeit, aber zumindest ein Gefühl davon – und unterhaltsam ist es ja irgendwie noch dazu. Es ist der Selbstbetrug derjenigen, die um etwas betrogen wurden.


Smith fächert die Formen des Betrugs aber noch konkreter auf. Nach der Hälfte des Romans wird der Lebensweg des ehemaligen Sklaven Andrew Bogle erzählt, der einige Jahrzehnte umfasst – und mit ihr die grausame Geschichte der Sklaverei, die ein paar Jahrhunderte einschließt. Bogles Vater stammte aus einer vornehmen Familie eines afrikanischen Landes (der Sohn weiß nicht, aus welchem, seine Standesherkunft lässt sich aber an seinen Narben ablesen). Was Ainsworth und seine Kollegen in ihren Salons abstrakt diskutieren, wird hier als konkrete leibliche Erfahrung von Menschen beschrieben, deren Schicksal, weil es sich so weit entfernt ereignete, sich nur zu leicht ignorieren ließ. Kurios fand Zadie Smith es, dass der historische ­Bogle überhaupt als Zeuge zugelassen worden war – in den Vereinigten Staaten wäre das zur gleichen Zeit aufgrund der Rassengesetze nicht möglich gewesen. Und es sind originale Zitate aus Bogles Herkunftsgeschichte, die sie verwendet.


Und dann ist da noch Charles Dickens


Erst mit dieser verschachtelten Erzählung wird „Betrug“ griffiger, werden die Figuren zugänglicher. Durch die kurzen Kapitel, die Smith bei der Arbeit am Manuskript per E-Mail auch an Daniel Kehlmann geschickt hat, der erfahren ist mit historischen Romanen, wirkt „Betrug“ ein wenig wie ein Fortsetzungsroman. Doch Smiths Romane hatten schon vor „Betrug“ in ihrem mehrschichtigen Aufbau eine viktorianische Anmutung, ihre Vorbilder sind unter anderen George Eliot und E. M. Forster. Zuletzt hatte sie immer wieder neue Formen ausprobiert wie in der Kurzgeschichtensammlung „Grand Union“ (2019). Ihren letzten Roman „Swing ­Time“ (2016) hat sie erstmals aus der Ich-Perspektive erzählt. In „Betrug“ führt sie die verschiedenen Elemente formal zusammen.


Eine Konstante auch in dieser neuen Form ist Kilburn, der Stadtteil im Nordwesten Londons, in dem Zadie Smith aufwuchs, wo auch ihr Debüt „Zähne zeigen“ spielte, durch den sie mit Mitte zwanzig zum „Wunderkind“ des „multikulturellen Londons“ wurde. Eine Zuschreibung, der sie lange entwachsen ist, nicht zuletzt weil sie die vergangenen zwölf Jahre in New York gelebt, dort gelehrt und geschrieben hat. Im Zuge der Pandemie zog sie mit ihrer Familie wieder in ihre Heimat, und vielleicht ist es deshalb auch folgerichtig, dass sie sich nun in Romanform fragt, wie ihr eigenes Leben eigentlich in Großbritannien möglich geworden ist. „Betrug“ ist in dieser Hinsicht sehr persönlich. Mit der Figur Bogles stellt sie die Frage nach ihrem Schwarzsein, mit der Haushälterin Eliza die nach dem Frausein, mit dem Schriftsteller Ainsworth die nach ihrem Dasein als Autorin. Smith zeigt anhand ihrer historischen Figuren die Kontinuität britischer Geschichte, die sie auch in ihrer eigenen Geschichte findet: als schwarze Autorin mit britischem Vater, jamaikanischer Mutter, einer Großmutter, die als Dienerin arbeitete.


Und dann ist da noch Charles Dickens. Immer wieder taucht der Schriftsteller kurz auf. Smith wollte ihm im Text nicht den Raum geben, auch das hat sie jetzt im „New Yorker“ verraten, den er eigentlich für sie einnimmt. „Wenn man so alt ist wie ich, ein Bücherwurm und in England geboren, dann wächst man unter diesem lästigen, gigantischen Einfluss auf.“ Er ist sozusagen der Geist ihrer Vergangenheit, einer britischen Kindheit, von dem sie sich zu lösen versucht.


Das Paradox in Großbritanniens nostalgischer Selbstwahrnehmung – als Wohlfahrtsstaat und zugleich als Kolonialmacht – überträgt Smith auf die Figur Charles Dickens: auf den Autor, der wie Smith selbst als Wunderkind mit Mitte zwanzig berühmt wurde, weil er das Elend Londons so eindringlich beschrieb wie keiner vor ihm (selbst Historiker zogen seine Bücher heran, weil sonst niemand die Lebenswelten von Lumpensammlern beschrieb); der sich für soziale Reformen einsetzte, hinter dem sich eine Masse versammelte; der Held der Arbeiterklasse. Dickens darf in „Betrug“ auch ein Chauvinist sein: „Wir sind unterwegs in die richtige Richtung, hin zu einer überlegenen Gesellschaftsform – politisch, moralisch, intellektuell und religiös“, so werden Richard Henry Horne und Dickens im Roman zitiert. „Glaubten sie das wirklich?“, fragt sich Eliza Touchet.


Zadie Smith zeigt in „Betrug“: Es ist möglich, auf die Geschichte zu blicken, ohne nostalgisch zu sein, ohne sich selbst zu betrügen – und dennoch zu erkennen: Es ging auch in die richtige Richtung.


Zadie Smith, „Betrug“. Aus dem Englischen von Tanja ­Handels. Kiepenheuer und Witsch, 528 Seiten, 26 Euro.

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