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Joy Williams: Eine Leere, die dem Himmel gleicht

Joy Williams ist seit Jahren ein Star amerikanischer Literatur. Aber erst jetzt erscheint ihr biblisch-dystopischer Debütroman „In der Gnade“ auch auf Deutsch.


Erschienen in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung am 7. April 2024


Es ist eine Landschaft ohne Licht, ohne Sauerstoff, „und der Boden trocknet nie“. Die Welt scheint vor einer Sintflut zu stehen, sie wirkt faul und auf sonderbare Weise selbstvergessen, denn hier wächst ja immer noch der Wald, und da schwimmen auch kleine Fische in Pfützen. Es ist eine lebensfeindliche Natur, in der Joy Williams ihr Debüt „In der Gnade“ ansiedelt, einen Roman, der vor gut fünfzig Jahren erschienen ist und erst jetzt ins Deutsche übertragen wurde.


In diesem Wald in Florida lebt also Kate mit ihrem Mann Grady in einem Wohnwagen. Dass sie verheiratet sind, weiß niemand, erst recht nicht ihre Schwestern von der wohltönenden Studentinnenverbindung „Omega Omega Omega“; auch dass sie schwanger ist, weiß niemand außer Grady, der wiederum nicht weiß, ob das Kind von ihm ist. Aber das ist auch egal, denn ihm ist es egal, er hat sich dafür entschieden. Sie sind jung und leben dort, in ihrer kleinen Welt, die morbide sein mag, aber in der sie sich zurechtfinden. Es ist kein Paradies, dafür kann hier niemand vertrieben werden. „Ja, na ja, jeder Flecken Erde hat seine dunkle Seite.“ Auflösen wird er sich, das verrät Kate der Leserin. „Wenn Sie lang genug graben, um Ihren Samen zu versenken, finden Sie unter der Erdkruste eine Leere, die dem Himmel gleicht. Nein, auf lange Sicht ist nichts mit dem Leben vereinbar.“


Auf kurze, ein neues Menschenleben lange Sicht vielleicht schon. Und während Kate über das wachsende Leben in ihr nachdenkt, gerät sie unweigerlich in die eigene Kindheit. So sauerstoffarm ihre Gegenwart auch sein mag – sie wirkt weniger erstickend als der kalte Wind New Englands, den sie als Mädchen erlebte. Ihr Vater, ein Priester, hatte sie mit Psalmen konditioniert, Misshandlungen fanden auf verschiedene Weisen in der Familie statt. Der Roman hält hier gekonnt Abstand, indem er von der Icherzählerin ins Auktoriale wechselt. Aus „Daddy“, Mutter und ich werden Reverend, Frau, Kind.


Meisterin der Kurzgeschichten


Der Priester ist so beängstigend wie die Figur des Harry Powell im amerikanischen Klassiker „Die Nacht des Jägers“, in dem die Kinder mit dem Fluss gen Süden fliehen mussten, genau wie Kate es tat. Kate und der Priester sind auch die Einzigen, die aus der Familie überlebt haben. Ihre schwangere, geistig kranke Mutter starb bei einem Autounfall und nahm Kates Schwester mit in den Tod.


Das bessere Leben für Kate ist also das in dem Wohnwagen, und man sollte vorsichtig sein, es zu wörtlich zu nehmen, dass die heute achtzigjährige Schriftstellerin Joy Williams selbst einst in einem solchen Wohnwagen mit ihrem ersten Ehemann (der wie Grady einen Jaguar fuhr) lebte, ein Kind bekam und einen Priester als Vater hatte. Als „exzellente Umstände“ für das Schreiben eines Debüts befand Joy Williams vielmehr ihr Leben in den Siebzigern. Später, in großen Abständen, sollten noch drei weitere Romane folgen, zuletzt 2021 „Harrow“.


Bis heute ist Williams in den Vereinigten Staaten aber vor allem als Meisterin der Kurzgeschichten berühmt. Es verwundert umso mehr, dass erst letztes Jahr einige davon in „Stories“ und nun eben ihr Debüt mit einer so sagenhaften Verspätung auf Deutsch erschienen sind (man will nicht darüber nachdenken, welchen zu einfachen Grund es dafür geben könnte). Julia Wolf hat Williams’ eigentümlichen Ton dabei so elegant wie stimmig aus dem Englischen übersetzt. Nur an sehr wenigen Stellen wirkt der Text pathetisch, aber das sind Sprachbilder, die bereits im Original angelegt sind und die vielleicht im Deutschen noch mehr herausstechen.


Eine unaufdringliche Vielstimmigkeit


Der Schriftsteller Dan Kois hat Joy Williams wegen genau dieser Eigentümlichkeit eine „writer’s writer’s writer“ genannt – eine Autorin, auf die sich über die Jahrzehnte verschiedenste Autoren einigen konnten. Truman Capote nannte das Debüt damals den „Roman des Jahres“, William H. Gass und Don DeLillo bezeichneten sich als Fans, Bret Easton Ellis fürchtete sich vor ihren Texten, für Harold Brodkey war sie die talentierteste Autorin ihrer Generation, Tao Lin trägt Shirts mit ihrem Konterfei, Karen Russell beneidet sie immer wieder in Essays, und für Raymond Carver war Joy Willams nichts weniger als ein Wunder. Die Liste der Huldigungen geht noch weiter – Williams hat den Kult, für den sie zu uneitel scheint, längst in der ihr eigenen Exzentrik angenommen. Sie taucht stets mit Sonnenbrille auf, und man soll sie nur per Postkarte kontaktieren können.


Dabei entzog die Autorin sich dem, was ihr eine literarische Karriere hätte erleichtern können. Sie lebt nicht in einer der Literaturmetropolen (und ihre Texte spielen meist in Florida, in Maine und Arizona). Sie ließ sich nicht in Genres fassen (man könnte sie im Realismus, Surrealismus, Transzendentalismus verorten). Und auch wenn sich bestimmte Themen bei ihr wiederholen – Natur, immer ähnlich abgeklärte weibliche Figuren –, so existieren die aus sich selbst heraus, nicht als Wiedererkennungseffekt. Es geht bei Williams weder um autofiktionale Auslassungen noch um Traumabearbeitung (wie sie zuletzt so beliebt in der Literatur geworden ist, am besten mit potentieller Erlösung) noch darum, Projektionsflächen zu schaffen. Ihre Figuren sind dafür zu eigen, die Plots zu unvorhersehbar, und als Leserin ist man ständig damit beschäftigt, die eigene Rezeption zu befragen. Auch die Welt von Kate im Debütroman entsteht aus sich selbst heraus – und aus sich selbst heraus erzeugt und formuliert sie eine Sehnsucht.


Williams hat eine sehr genaue Vorstellung davon, was Literatur der Vereinigten Staaten in ihrer Form leisten muss. So beschreibt sie in einer viel zitierten Vorlesung, sie solle „die Rücksichtslosigkeit und Unbarmherzigkeit, die Grotesken und Grausamkeiten“ der „amerikanischen Erfahrung“ aufsaugen, um dem „glänzenden, weitschweifenden, humoristischen Stil“, der heute als amerikanisch gelte, zu entgehen. Aber mehr noch, und das ist vielleicht wichtiger: Literatur in Amerika müsse eine gewisse „kollektive Erfahrung“ und gleichzeitig „sprawl and smallness“, die Zersiedelung und Kleinheit dieses riesigen Landes, erfassen. Das Kollektive findet sich in ihrem Debütroman dann, wenn eher zufällig wirkenden Figuren Raum gegeben wird – einem Anrufer beim Radio, der Hausmutter der Studentinnenverbindung, einem behandelnden Arzt. Ihre Ängste, Verzweiflungen, Hoffnungen bekommen in kurzen Passagen so detailreich Raum, als wären sie die Hauptfigur, und es wird dennoch so beiläufig von ihnen erzählt, dass eine unaufdringliche Vielstimmigkeit entsteht, die ein hintergründiges amerikanisches Panorama ergibt.


Dabei lässt sich fragen, was die amerikanische Erfahrung eigentlich ausmacht. Es mag naheliegen zu sagen, dass es die Freiheit sei oder das Streben nach ihr. Doch, und das zeigt sich eindrucksvoll in Williams’ Debüt, es ist das Gegenstück dazu: das Gefangensein. Als traditionsreiches Thema der amerikanischen Literatur findet es sich bei Williams dann als eine universale Erfahrung – sei es durch Glaube, Geschlecht, Herkunft. Aber eben, darüber hinaus, auch in der Natur, die der Mensch zu unterwerfen versucht, deren Teil er jedoch immer bleibt. Es gebe keine „Verbrechen gegen Gott“ mehr, sagt Kate. Nein, „richtig“ sei, die „Verbrechen gegen die Natur“ zu benennen.


Biblische Poesie


Der Umgang mit der Umwelt wurde später (unter anderem in der Essaysammlung „Ill Nature“) zu einem zentralen Thema für Williams. In einem Interview warnte sie, dass Literatur, in der ständig über den Menschen und dessen Menschsein palavert werde, irgendwann verschwinden dürfte, „weil einem davon schlecht wird“: „Kulturelle Vielfalt kann niemals die biologische Vielfalt ersetzen.“ Und so stellte sie bereits in ihrem Debüt den Menschen einen Querschnitt der Fauna gegenüber – von Muscheln, Eidechsen, Haien und Vögeln zu Fischen und Pferden. Williams nutzt die Natur für so treffende wie originelle Sprachbilder, wenn beispielsweise Sheriffs über einen Schwarzen „weich und geräuschlos wie Hunde über eine Scheunen-Ente“ herfallen oder eine machthungrige Verbindungsschwester andere aus Gesprächen entlässt „wie Häschen, die einer Falle entkommen sind“.


Das Verhältnis von Mensch und Natur ist auf seltsame Weise symmetrisch. Kates guter Freund Corinthian arbeitet in einem Zoo namens „Bryants Beasts“, den niemand besucht, weil er von einem Schwarzen geführt wird. Corinthian bemitleidet die eingesperrten unsichtbaren Tiere und beneidet sie gleichzeitig: „Sie haben etwas erreicht, von dem Menschen glauben, es wäre erstrebenswert. Sie können nicht mehr zugrunde gehen.“ Die Einsamkeit der eingesperrten Tiere spiegelt die Einsamkeit der vermeintlich freien Menschen.


Auch die Freundschaft zu Corinthian bietet ein wenig Halt für Kate (und die Leserin). Dennoch: Man sollte nicht erwarten, auf den gut 330 Seiten einmal erleichtert aufatmen zu dürfen. Der Sauerstoff bleibt knapp. Abtreibungen könnten vollzogen werden, Autounfälle könnten töten oder Raubkatzen angreifen – was geschieht und welche Konsequenz daraus erfolgt, bleibt unvorhersehbar. Williams’ Sprache ist dabei hart, nüchtern, satt, dicht, abgeklärt, manchmal ironisch und zart, nie aber melancholisch. Und sie fordert in ihrer biblischen Poesie die volle Aufmerksamkeit.


Die Sintflut hat längst begonnen


Der Glaube spielt dabei weniger eine Rolle als die Parabeln, die eine transzendente Ebene eröffnen. Für sie, sagt Williams, entstehe in diesen Bildern eine andere, eigene Sprache. „Es ist nur naheliegend, dass der Wohnwagen vor dem Wald da gewesen ist, aber das wäre absurd“, denkt Kate. „Noch so ein Mysterium, wie das Schiff in der Flasche oder wie der Eine in der Offenbarung, der auf dem Thron saß und anzusehen war wie der Stein Jaspis und der Sarder. So viele Rätsel, aber keine Überraschungen.“


Gegen Ende beschleicht einen die Erkenntnis, dass die Sintflut schon längst begonnen hat. „Die Wälder bieten keine Erleuchtung. Sie sind eine riesige verriegelte Tür vor Gott.“ Die Welt selbst ist die Arche, und es gibt aus ihr kein Entkommen. Machtlos bleibt man zurück in der Gewissheit: Joy Williams hat eine Sprache geschaffen, die genau diesen Zustand erfasst.


Joy Williams: „In der Gnade“. Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Julia Wolf. dtv, 336 Seiten, 24 Euro.

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