Vor mehr als dreißig Jahren erschien Art Spiegelmans Comic „Maus“ auf deutsch. In amerikanischen Schulen ist er Standard, in deutschen unbekannt. Obwohl er der heutigen Generation einen Zugang zur Schoa bieten könnte, den sie benötigt.
Erschienen in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung am 10. Januar 2021
und auf faz.net
Ein einziges Mal hat Karsten Brill „Maus“ unterrichtet. Das war mit einer seiner letzten G9-Klassen, also vor dreizehn Jahren. Heute unterrichtet er in Bönen, Deutsch und Englisch. „Maus“ nahm er damals am Gymnasium Essen-Werden mit seiner damaligen zehnten Klasse durch, als es um die Schoa ging. Welche Texte wählt man aus, um jungen Menschen einen literarischen Zugang zu etwas zu schaffen, was sich literarisch schwer begreifen lässt? Worüber immer wieder gestritten wird, was darstellerisch möglich, was künstlerisch angemessen ist? Vor allem, wenn sich das Wissen darüber, was geschehen ist, für diese jungen Menschen gerade noch aufbaut?
Wenn Brill Bücher für seine Klassen auswählt, erzählt er, dann sollten es solche sein, die Jugendliche erreichen, ihnen also verständlich sind; sie sollten ihnen die Möglichkeit geben, sich zu identifizieren; und zudem „gewisse Analysefähigkeiten fördern“. Die Deutschklasse, für die er den Comic als Lektüre wählte, wusste schon einiges über die Schoa: Die Schülerinnen und Schüler waren in Buchenwald gewesen, hatten mit Zeitzeugen gesprochen, vorsichtig fragten sie nach. „Langsam wurden ihnen die unmenschlichen Dimensionen bewusst.“ Und schließlich kamen die konkreten Nachfragen: Warum wurde das zugelassen? Wie kann so was sein? „Sie wollten die Dinge genau beschrieben wissen und erfahren, wie sie abgelaufen sind. Sie stießen an die Grenzen ihres Vorstellungsvermögens.“ Brill hoffte, dass ihnen „Maus“ das Unvorstellbare verständlicher machen könnte.
Vor mehr als dreißig Jahren erschien Art Spiegelmans „Maus“ in deutscher Übersetzung. In amerikanischen Schulen gilt die berühmte Graphic Novel als Standardwerk, wenn es im Unterricht um die Schoa geht, in deutschen Klassenzimmern scheint sie aber gänzlich unbekannt. „Maus“ erzählt die autobiographische Geschichte von Art und die seiner Eltern Vladek und Anja Spiegelman, die im März 1944 nach Auschwitz deportiert wurden, überlebten und über Schweden in die Vereinigten Staaten auswanderten. Spiegelman zeichnet sie und sich als anthropomorphe Mäuse (menschliche Körper, tierische Köpfe) und stellt das Zitat Hitlers voran, dass „die Juden zweifellos eine Rasse seien, nur keine menschliche“.
Die Deutschen sind hier die jagenden Katzen. Mit diesem künstlerischen Griff macht er sich das Denken der NS-Zeit ironisch zu eigen und ist gleichzeitig skeptisch gegenüber sich selbst: Beispielsweise wenn Art damit hadert, wie er seine konvertierte Ehefrau Françoise denn nun darstellen solle: als Französin, also Frosch, oder als Jüdin, also Maus? „Maus“ wurde als transgressiv wahrgenommen, weil das Buch den massenhaften Tod abbildet und damit gar nicht erst versucht, der Frage, ob man das dürfe, gerecht zu werden. Gleichzeitig sind es immer Mäuse und nicht Menschen, die zu sehen sind – das schafft Abstand und verfremdet. So wird auf die eigene Symbolhaftigkeit verwiesen, auf das Unvermögen, Greuel und Brutalität darstellen zu können.
Was die Kunstform Comic kann
„Die Skepsis der Schülerinnen und Schüler gegenüber der Kunstform Comic löste sich schnell auf. Sie fingen an zu begreifen, auf was die gezeichneten Bilder und Spiegelmans Geschichte verweisen – und, dass sie nur verweisen können. Der letzte Schritt vollzieht sich im Kopf.“ „Maus“ erzählt nämlich nicht nur die Geschichte von Spiegelmans Eltern, von denjenigen also, die überlebt haben, und vom Schweigen derjenigen, die nicht mehr leben durften. Im zweiten Teil von „Maus“, der neun Jahre nach dem ersten erschien, zeichnete sich Art selbst am Zeichentisch. Der Mauskopf ist nun nur noch Maske, Fliegen kreisen um ihn, während er erzählt, dass seine Frau Françoise im Jahr 1987 ein Kind erwartet.
Im selben Monat, 43 Jahre zuvor, wurden innerhalb von acht Tagen hunderttausend ungarische Juden vergast; im selben Monat, 21 Jahre zuvor, nahm sich seine Mutter das Leben. Artie blickt einen aus dem Buch heraus direkt an: „Maus ist ein kritischer und kommerzieller Erfolg.“ Sein Zeichentisch steht auf einem Leichenberg, daher die surrenden Fliegen, er weint auf den Tisch, „Time flies“, „Zeitfliegen“. Die Zeit verfliegt, sie fliegt, und sie kreist um all die Toten. Sein Leben, das seiner Familie, seine Existenz als Künstler, alles resultiert aus dem Mord an Millionen und dem Leid, dem seine Mutter letztlich nicht entfliehen konnte. Er bringt hier die Gegenwart, sein Leben, aber auch alles Leben, das danach kam, konkret zusammen mit dem Gefühl der Schuld, überlebt zu haben.
Als „Maus II“ erschien, sprach sich Elie Wiesel wohl am prominentesten gegen die Literarisierung des Holocaust aus, plädierte aber dafür, dass versucht werden müsse, das Unbeschreibbare zu beschreiben. Die verschiedenen Standpunkte der akademischen Diskussion in den neunziger Jahren – einerseits, dass Dokumentation und historisches Schreiben wichtiger seien, weil Literatur ihren Figuren eine Handlungsmacht verleihe, die real nicht existiert habe (Berel Lang); andererseits, dass, wenn über die Schoa gesprochen werde, man immer zuerst über ihre Darstellung spreche (James E. Young) – richteten sich letztendlich auch an die Lehrpläne an deutschen Schulen. Verlangt wurden: mehr Memoiren, mehr Sozialgeschichte, mehr jüdische Geschichte.
Kurz vor der Jahrtausendwende stellte die Konferenz der Kultusminister noch einen hundertseitigen Beitrag der Länder vor, in dem es hieß, der Unterricht zur Schoa solle „speziell dem Kennenlernen und Verstehen jüdischer Kunst und Kultur“ dienen – was eine schwierige Prämisse ist, denn was soll das heißen: das Judentum durch den Genozid „kennenlernen“? Tatsächlich fehlt in vielen Schulbüchern aber immer noch allgemeines Wissen über jüdische Kultur, zur Geschichte des Judentums und seiner Sprachen. Vergleichsweise ausführlich demgegenüber wird über den Widerstand im Nationalsozialismus informiert.
Vor drei Jahren erschien eine Studie des Politikwissenschaftlers Philipp Mittnik über die Holocaust-Darstellung in Schulbüchern. Sie zeigt: Zwar wird im deutschen und österreichischen Geschichtsunterricht mehr als früher von einer Sozial- und Alltagsgeschichte ausgehend die Schoa zum Thema; auch werden Bezüge zu aktuellen Ereignissen, zu Rassismus und heutigem Rechtsextremismus hergestellt. Was jedoch fehlt, ist eine Einbettung in den Kontext europäischer und westlicher Geschichte. Geschichte wird immer noch auffällig aus deutscher, nichtjüdischer Perspektive erzählt.
Das zeigt sich auch an der Auswahl literarischer Texte, die im Deutschunterricht gelesen beziehungsweise nicht gelesen werden. Eine ältere Studie des Georg-Eckert-Instituts für internationale Schulbuchforschung von 2013 hat fünfundfünfzig Schulbücher für die erste Sekundarstufe aus den Jahren 1990 bis 2010 untersucht. Das Ergebnis: Es wird wenig Literatur zur Schoa gelesen.
Das in deutschen Schulklassen am meisten gelesene Buch ist, wenig überraschend, „Das Tagebuch der Anne Frank“, was natürlich kein Roman ist. Mit Abstand folgen Romane der siebziger Jahre: „Damals war es Friedrich“ von Hans Peter Richter, „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“ von Judith Kerr und „Der gelbe Vogel“ von Myron Levoy.
Das sind wichtige Texte. Aber bis auf Levoys Roman behandeln sie vor allem das Davor, die Frage, wie es dazu kam und wie der Alltag erlebt wurde. Pädagogisch scheut man sich zu benennen, worauf sich dieses „Davor“ eigentlich bezieht – eine Kritik, die Zohar Shavit bereits vor dreißig Jahren gegenüber Hans Peter Richters Roman äußerte. Denn die Ermordung der Juden bleibt eine Leerstelle.
Für die Jugendlichen, die gerade noch die letzten Zeitzeugen erleben, wäre es wichtig, diese Leerstelle zu füllen – und dabei zu fragen, wie dies angemessen geschehen kann. Literatur, die sich mit dem Trauma der Überlebenden, aber auch mit dem nachfolgender Generationen beschäftigt, wäre ein wichtiger Teil einer solchen Fragestellung.
Aber hier zeigt sich ein grundsätzliches Problem für deutsche Lehrpläne: Die nachfolgende Generation, also die, die sich damit konfrontiert sieht, die lebendige Verbindung zum Holocaust zu sein, und in der sich das Wissen der Eltern zu Geschichte, Mythos, Erzählung wandelt, schreibt oft nicht auf Deutsch.
Im Deutschunterricht werden aber Übersetzungen nur selten durchgenommen, im Fremdsprachenunterricht findet sich selten Platz für die Schoa. Das Problem, so scheint es, ist, dass die Schoa als Thema eben nicht nur in einem Fach unterrichtet werden kann. Sie berührt Geschichte, Sprachen, Politik, Philosophie, Religion. In die Zwischenräume, die disziplinäre Fächer eröffnen, fallen nicht-deutschsprachige, künstlerische Auseinandersetzungen wie „Maus“ einfach hinein – und halten so Bildungslücken offen, die interdisziplinäres Denken schließen könnte.
Auch ein generelles Umdenken könnte diese Lücke schließen: wenn sich die Lehrpläne konsequenter von der Perspektive „der Täter“ verabschieden würden. Dass „Maus“ in deutschen Lehrplänen fehlt, bestätigt die These des Historikers Raul Hilberg, nach der der Nationalsozialismus in Deutschland problematischerweise vor allem Familiengeschichte sei. Zwar seien der Zweite Weltkrieg und der Nationalsozialismus präsent, der Mord an den Juden werde aber lediglich als schlimmster Auswuchs einer Ideologie wahrgenommen. Die Erinnerungen der Opfer, Überlebenden, Nachkommen bleiben auf seltsame Weise „jüdisch-fremd“.
Dass beispielsweise die (eigentlich kanonischen) Stimmen von Primo Levi, Ida Fink, Jurek Becker, von Tadeusz Borowski, Ruth Klüger oder Nathan Englander kaum Eingang in den Schulkanon finden, ist also einerseits problematisch, weil die Perspektive um die jüdische Erfahrung verkürzt wird und damit um eine Auseinandersetzung mit dieser. Darüber hinaus könnten aber Texte wie „Maus“, Texte, die zudem das Trauma der nachfolgenden Generationen behandeln, einen Zugang für heutige Jugendliche erschließen, den sie benötigen. „Maus“ zum Beispiel teilt die Erfahrung mit ihnen, kein Zeitzeuge zu sein. Genauso wenig wie die Kinder der zweiten Generation, die ja selbst nun schon eine Fülle an Texten bieten.
Was unbeschreibbar erschien
So arbeitet sich die Graphic Novel nicht nur daran ab, was Art selbst nicht erlebt hat und was unbeschreibbar erscheint, sondern findet schließlich doch Wege, es darzustellen. Das gibt der Lektüre etwas Hoffnungsvolles. Sie will nicht nur Schweigen, Respekt und Andacht hervorrufen, sondern das Erzählen in Frage stellen und versuchen, die Gegenwart in der Geschichte zu begreifen. „Die Klasse war von ,Maus‘ damals sehr ergriffen“, sagt Brill. Für historische Fotografien wären seine Schülerinnen und Schüler, so glaubt er, vielleicht noch zu jung gewesen. „Bei manchen Stellen in ,Maus‘ wurde ihnen die Brutalität aber ansatzweise bewusst. Sie waren fassungslos gegenüber der Ideologie und fingen an, vieles in Frage zu stellen und zu diskutieren.“
Brill las „Maus“ danach nicht noch mal mit einer Klasse. Der Text ist nicht abiturrelevant. Und für alles darüber hinaus bleibt kaum Zeit.
Art Spiegelmans „Maus“ ist, auf Deutsch übersetzt von Christine Brinck und Josef Joffe, im Fischer Verlag erschienen (300 Seiten, 16 Euro).
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