Noch immer werden kulturelle Diskurse meist national geführt. Ein niederländischer Journalist will das mit einer Zeitschrift ändern.
Erschienen in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung am 11. Juli 2021
Etwa achthundert Meter entfernt von dort, wo Sander Pleji arbeitet, wurden einst die Nouvelles de la République des Lettres gedruckt. Vor mehr als 300 Jahren beschäftigte sich diese Zeitschrift mit Philosophie, Literatur, Geschichte, und das gleich in mehreren Sprachen. „Wir stehen wahrlich auf den Schultern von Giganten!“, sagt Pleij im Videotelefonat.
Denn der niederländische Autor und Journalist ist Herausgeber einer Zeitschrift, die ganz Ähnliches will: The European Review of Books möchte Kulturkritik in Europa fördern – und zwar über Metropolen und Grenzen hinweg. Bisher fehle das in Europa. Kulturelle Diskurse würden sich immer noch vor allem national vollziehen. Und so verhindern, dass eine gemeinsame europäische Kultur aufblühen könne. Der Grund dafür: die vielen Sprachen des Kontinents. „Das war schon zu Zeiten Pierre Bayles so, der die Lettres damals in Amsterdam herausgab. Und es hält bis heute an.“ Die European Review of Books will dieses Problem zumindest teilweise lösen, indem Texte in zwei Sprachen erscheinen: in derjenigen, in der der Text verfasst wurde. Und übertragen ins Englische.
Begünstigt man damit nicht wieder Englisch als Lingua franca? „Dass Englisch allgegenwärtig ist, wird immer als Problem dargestellt. Nun, die Realitäten sehen aber so aus, dass Sie und ich eben gerade Englisch sprechen.“ Laut Manifest der Zeitschrift könne man diese Allgegenwärtigkeit dabei nutzen, um Mehrsprachigkeit zu fördern. Wie das gemeint sei? „Amerikanisch und Britisch werden zu Dialekten. Überspitzt gesagt: Als Nicht-Muttersprachler spreche ich mein eigenes Englisch und entziehe es den Muttersprachlern.“ Es käme nur darauf an, das deutlich zu machen: also zu zeigen, wie sich die eigene Sprache zum Englischen verhalte. Wie genau das aussehen kann, soll dabei offenbleiben. „Wir spielen ständig mit Klischees und Rollen einzelner Nationalitäten in Europa. Das spielerische Element erkenne ich aber wenig in der Auseinandersetzung darüber.“
Eine programmatische Linie solle es daher also nicht geben, man möchte „experimentell arbeiten“. Das heißt: Kunst, Literatur, Wissenschaft, Einordnungen, Gedichte, Essays – für alles soll sich Platz finden. Neben Nationalsprachen können dabei auch Texte in Dialekten wie Friesisch oder Bretonisch eingereicht werden. Auch ein „European Review of Untranslatable Jokes“ wird es geben.
vielleicht ist das eine literarische Haltung. Ich interessiere mich dafür, wie Argumente entstehen.“ Daher ist es zentral für die European Review of Books, die Forschung stark einzubeziehen. Pleij hat die Zeitschrift gemeinsam mit zwei Wissenschaftlern ins Leben gerufen: George Blaustein, Professor für Amerikanistik, und Uğur Ümit Üngör, Professor für Holocaust-Studien. „Wir wollen unsere eigenen Methoden infrage stellen und so Zwiegespräche und Erkundungen in den Fokus rücken.“
Gefördert wird die Zeitschrift von Stiftungen, Übersetzerfonds und nicht zuletzt der EU. Fast 100 000 Euro konnte das Projekt jedoch durch Crowdfunding sammeln (oder wie die Redaktion in einem Text über die „Anti-poetry of a crowdfunding campaign“ fragt: „Why crowdfund when you could schwarmfinanzieren?“). 100 000 Euro, das ist mehr als man sich erhofft hatte. Das Interesse komme dabei nicht zuletzt von anderen Kontinenten. Viele Spenden kamen aus den Vereinigten Staaten, einer der ersten Texte ist ein Interview mit Gersy Ifeanyi Ejimofo, welche afrikanische Literatur online verlegt, und, wie Pleij erzählt, man stehe im Austausch mit einem chinesischen Herausgeber. Die Zeitschrift soll also nicht nur einen Kulturdiskurs europäischer Länder untereinander bewirken, sondern so Europa in seiner Beziehung zu anderen Kontinenten besser begreifbar machen.
Nur eine Textform wolle man vermeiden: den Meinungsbeitrag. Pleij habe „genug davon“; Meinung dominiere die Diskurse und würde dabei tatsächlich wenig zum Dialog beitragen. „Es geht mir nicht um ‚richtig oder falsch‘, und Beziehung zu anderen Kontinenten besser begreifbar machen. Bisher sind einige Essays und Texte online zu lesen: Neben kunsthistorischen Überlegungen der Redaktion zu Europa und Zeus als Stier, beispielsweise eine Kurzprosa der schottischen Schriftstellerin Ali Smith oder ein Exzerpt aus „Das deutsche Krokodil“ des Journalisten Ijoma Mangold.
Ab Herbst sollen im Onlinemagazin dann wöchentlich Inhalte erscheinen. Und dreimal jährlich ein Printmagazin publiziert werden: „Das soll in Buchlänge erscheinen, um die 300 Seiten lang.“ Als „Review for Books“ wolle man schließlich auch die Buchform unterstützen. Und sich an diejenigen richten, die das Buch als „eine Zeitkapsel menschlichen Wissens“ schätzen.
Damit nimmt das Magazin durchaus eine gewisse intellektuelle Elite in den Blick: Leser, „die mit dem Schengener Reiseabkommen aufgewachsen sind“, die an viel mehr Orten studiert haben „als je zuvor“, die die Geisteswissenschaften kennen und „sich nach der Beständigkeit des Gedruckten sehnen“, so formuliert es die Redaktion. Europäische Millennials also? „Klar, durchaus.“ Die Zeitschrift richte sich aber nicht an eine bestimmte Generation. Sondern an die Erfahrung eines Europas, der kulturkritisch noch nicht Genüge geleistet wurde.