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Serie "Inventing Anna": Die Geschichte einer Lüge

Anna Sorokin wurde als dreiste Hochstaplerin berühmt. Nun hat Netflix der Deutschen ihre Geschichte abgekauft – und macht leider zu wenig daraus.


Erschienen am 13. Februar 2022 in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.


Man möchte meinen, eine gute Geschichte ließe sich unendlich oft erzählen. Für jeden, der sie noch nicht kennt, wird sie dabei schöner, mit jeder Wiederholung, mit jedem Detail wird sie vielschichtiger. Bis sie sich irgendwann verselbständigt hat – und alle Versionen sich dabei ein wenig voneinander unterscheiden.


Die Geschichte von Anna Delvey wurde über die letzten Jahre sehr oft erzählt: von Journalistinnen, von ihren früheren Freunden, von Anwälten, Klägern, Zeugen. Als „Fake German Heiress“ wurde sie berühmt, eine Hochstaplerin, die zwischen 2013 und 2017 „New Yorks feine Gesellschaft vorführte“, so wird es meist genannt.


Die Journalistin Jessica Pressler schrieb das im „New York Magazine“ als Erste ausführlich auf, da stand Delvey noch vor Gericht. Das Urteil (vier bis zwölf Jahre) war für die Presse der vorläufige Schlusssatz: Die vielversprechende Story konnten aber nun Bücher, Filme oder Serien aufgreifen. Netflix kaufte der Verurteilten die Rechte an ihrer Geschichte ab, mit dem Betrag konnte Delvey die Schulden und Anwaltskosten begleichen. Schon im Gerichtssaal sollen Drehbuchautoren gesessen und Notizen gemacht haben. Ihre Aufgabe: den besten Plot, die beste Pointe zu finden.


Wer Delveys Geschichte nicht kennt, dem sei sie an dieser Stelle kurz zusammengefasst: Die junge Anna Sorokin zieht mit ihrer Familie von einem Moskauer Vorort in einen Kölner Vorort. Sie macht Abitur, will in London studieren, über ein Praktikum kommt sie nach New York. Sie hat kein Geld und keinen Einfluss, lebt unter falschem Namen in Luxushotels, isst in Sternerestaurants, trägt Designerkleidung. Sie sagt, ihr Vater habe etwas mit Öl- oder mit ­Solarenergie zu tun, und sie werde an ihrem 25. Geburtstag Zugriff auf einen 60-Millionen-Euro-Treuhandfonds be­kom­men, mit dem sie dann für einen 28-Millionen-Dollar-Kredit bürgen könne. Damit wolle sie einen exklusiven Kunstklub gründen, die „Anna Delvey Foundation“. Ein Gebäude hatte sie dafür schon ausgesucht, einen Businessplan erstellt.


Betrug, Ruhm, Rache, Narzissmus


Und weil wichtige New Yorker sie für wichtig hielten, kam sie damit lange durch. Eine bekannte Bank war sogar bereit, ihr den Kredit zu geben. Aber die Rechnungen für Suiten, Dinner, einen Privatjet blieben eben unbeglichen, und auch für den Kredit konnte natürlich nicht gebürgt werden. Ihre Lüge flog jedoch erst auf, als die Kreditkarte einer Freundin belastet wurde, die selbst nicht reich war. Den Betrag für ein paar Tage in Marokko (etwa ein Jahresgehalt für sie) brauchte sie tatsächlich zurück und schaltete die Polizei ein. Sorokin wurde wenig später verhaftet und in fast allen Anklagepunkten (außer dem mit der Bank und der Freundin: Der Kredit wurde nie gezahlt, die Kreditkarte freiwillig hinterlegt) für schuldig gesprochen. Die Freundin wird später ein Buch veröffentlichen, Vorschuss: fünf Jahresgehälter.


In dieser Geschichte steckt also einiges Spektakel – Betrug, Ruhm, Rache, Narzissmus –, sie wirft aber auch Fragen auf: Wie undurchlässig ist die kapitalistische Gesellschaft? Wie oberflächlich? Wem wurde hier eigentlich geschadet? Wie gehen Medien mit solchen Storys um? Viel Stoff, dessen sich die Netflix-Serie „Inventing Anna“ hätte bedienen können.

Die Journalistin Pressler vom „New York Magazine“, die zuerst über Sorokin berichtet hat, produzierte die Serie mit. Darin heißt sie Vivian Kent und wird von Anna Chlumsky gespielt. Sie braucht diese eine gute Reportage – von noch einer MeToo-Enthüllung, von noch einem Trump-Kalauer wolle niemand mehr lesen. Hochstapler würden aber immer interessieren: „Entweder ist sie eine ultrareiche Deutsche, oder sie ist pleite, vielleicht eine Russin.


Niemand weiß es! Wer auch immer sie ist, heute wird sie angeklagt.“ Und die Anklage lese sich „wie ein Roman“, so schlägt sie ihrem Chefredakteur den Artikel vor. Für sie hängt viel an dieser Recherche: Sie selbst war einmal einem Hochstapler auf den Leim gegangen und muss sich ihre Integrität als Journalistin neu erschreiben. Außerdem ist sie hochschwanger. Und das Baby soll in eine Welt geboren werden, in der sie erfolgreich ist. Man ahnt es schon, und daher sei es vorweggenommen: Im Moment, in dem der Text fertig ist, kommt das Kind.


Von subtilen Metaphern hält „Inventing Anna“ also nicht viel, und auch sonst tut sich das Drehbuch schwer, einen reizvollen Zugang zum Stoff zu finden. „Es gab nicht nur eine Version von Anna. Der beste Weg, das klarzumachen, war für mich, der Reporterin dabei zuzusehen, wie sie mit all diesen verschiedenen Menschen spricht und deren Version dessen hört, wer Anna für sie war“, sagte Serienmacherin Shonda Rhimes in einem Interview. Alle Serien, die sie produziert oder schreibt („Bridgerton“, „Grey’s Anatomy“) sind ein Erfolg. Ihre Konkurrenz, Lena Dunham („Girls“), wollte Sorokins Geschichte auch verfilmen – aus der Sicht der geprellten Freundin und für eine HBO-Serie. Sie hatte das Nachsehen, Rhimes war schneller.


So folgt man in der Netflix-Produktion über die ersten sieben von neun Folgen wieder den Protagonisten aus dem „New York Magazine“-Artikel, die Sorokin getäuscht hat (eine Mäzenin, eine Personal Trainerin, eine Rezeptionistin, ein Investment-Boss und so weiter). Nur kommen die, wenn auch auf verschiedenen Wegen, immer zur gleichen Einschätzung: Anna Delvey habe etwas an sich, eine kaltschnäuzige Art, die ihr Respekt verschafft – faszinierend. Die Perspektiven auf Anna werden dabei in Dialogen so unmissverständlich ausgeleuchtet, dass sich keine Ambiguitäten mehr finden lassen – obwohl es die doch reichlich geben könnte. Niemand nähert sich ihrer Zwielichtigkeit wirklich an. Allein Julia Garner, die Sorokin spielt, lässt das Suspekte an ihr greifbar werden: In ihrem Akzent legt sie das Russische, Deutsche und Amerikanische so souverän aufeinander, wie sie ihrem Charakter die Mehrdimensionalität von Sensibilität, Selbstverliebtheit und Manipulation verschafft, die er braucht.


Und dennoch wird gerade der plattesten Eigenschaft dieser Figur – Liebe zum Luxus – der meiste Raum gegeben. Dekadenz ist dabei wenig lustvoll inszeniert, indem immer wieder ein paar Einkaufstüten, Geldscheine und Cham­pa­gner­flöten zum launigen Soundtrack von Megan Thee Stallion oder Doja Cat gezeigt werden. Man hätte gut daran getan, sich vom Erkenntnisprozess der Journalistin zu lösen. Erst nach Erscheinen des Artikels merkt sie, dass es da noch mehr geben muss: Wer ist Sorokin eigentlich, warum tut sie, was sie tut?


Eine große Leerstelle bleibt


„Sie glauben vielleicht, es gibt eine Entwicklung wie in Filmen oder was auch immer . . . aber ich war immer die, die ich bin“, sagt Delvey in einer Folge zu Kent. Was sie damit meint, wird schließlich noch mit einer Rückblende zu erfassen versucht, es bleibt aber die große Leerstelle. „Inventing Anna“ enthält keine Szene, in der man Sorokin gleichermaßen bewundern und verurteilen kann. Shonda Rhimes entscheidet sich lieber dafür, die Protagonisten mit ihr sympathisieren zu lassen. Ist das vertretbar? Oder glorifiziert man damit nicht ein Verbrechen?


Als Sorokin letztes Jahr wegen guter Führung entlassen wurde, sei sie wohl direkt wieder in ein Hotel eingecheckt und habe sich bei Instagram eingeloggt. Sie liebt die Aufmerksamkeit noch immer. Weil sie ihr Visum überzog, wurde sie jedoch wenige Monate später wieder inhaftiert, diesmal von der Einwanderungsbehörde. Über die Serie kann sie nicht sprechen, sie hat sie im Gefängnis nicht zu sehen bekommen. Dennoch schrieb sie kürzlich einen Artikel aus der Haft. Sie sei die einzige Frau dort („Tell me I’m special without telling me I’m special“). Und ja, sie sei zwar die „ultimativ unzuverlässige Erzählerin“, aber – wie auch immer die Serie sie darstelle – man könne ihr glauben, dass es ihr in der Haft sehr schlecht gehe.

Eine gute Geschichte kann unendlich oft erzählt werden. Man muss sie nur immer neu erfinden, damit sie nicht langweilig wird.

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