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Roman "Lügenleben": Die lektorierte Erinnerung

Aktualisiert: 24. März 2020

Sayed Kashua begreift mit dem autofiktionalen Roman "Lügenleben" in einer dichten, feinfühligen Sprache seine Vergangenheit.


“Was ist deine früheste Erinnerung?” fragt der Erzähler seine Gegenüber, wenn er das Tonbandgerät aufstellt, um ihre Lebensgeschichte aufzunehmen. Er ist kein Psychologe und auch kein Journalist, er ist Ghostwriter für Autobiografien. Dreißig Stück hat er verfasst. Seine Kunden sind in der Regel ganz normale Menschen: Menschen im Altersheim, Rentner, Mitarbeiter der Stadtverwaltung. Nur einmal interviewt er eine wichtige Person, ein ehemaliges Knesset-Mitglied, der außer einem Hausmeister sein einziger “weiterer arabischer Kunde” ist.


Ein Mann, der es aus ärmlichen Verhältnissen bis ins israelische Parlament geschafft hatte. Sie unterhalten sich auf Hebräisch, doch als der Mann von seiner Kindheit erzählt, wechselt er ins Arabische: “Ich fragte ihn auf Arabisch nach dem Krieg, und ihm fiel gar nicht auf, dass wir die Sprache gewechselt hatten.” Es wird von einem schweigenden Vater und einer weinenden Mutter, von Gefühlen der Angst und der Erniedrigung erzählt. Alles Dinge, von denen das ehemalige Knesset-Mitglied selbst jedoch gar nicht spricht, “er brachte nie die Kraft und den Mut dafür auf”, so der Said, der Erzähler.


In seinen ersten beiden Autobiografien lektorierte Said noch nicht die Erinnerungen seiner Kunden. Damit fing er erst bei seinem dritten Buch an. Eine Mutter wünschte sich eine Biografie ihres verstorbenen Sohnes, die sie dann immer und immer wieder lesen könne. “Ich fügte eine Jugendliebe hinzu, die ich Merav nannte, und die Mutter sagte, sie könne sich noch gut an Merav erinnern, ein schönes und schüchternes Mädchen, genau wie im Buch”. Es sind Lügenleben, die Said für seine Kunden verfasst. Oder?


Sayed Kashua macht keinen Hehl aus dem poetologischen Thema in seinem nun vierten Roman und wählt dabei den geschickten Kunstgriff, seinem Ich-Erzähler besagten Beruf eines “Autobiografen” zu geben. Die Parallelen zu seinem eigenen Leben sind dabei offensichtlich: Beide wuchsen im Grenzgebiet des Westjordanlandes auf, beide verdienen mit Schreiben ihren Unterhalt, beide wanderten in die Vereinigten Staaten, nach Illinois, aus. Beide, Autor und Erzähler, schreiben auf ihre Art und Weisen Autofiktionen: Der eine schreibt fiktiv in einer Figur seiner selbst, der andere schreibt sich selbst in die Autobiografien anderer. Dabei kommt natürlich immer wieder die Frage auf: Kann man ehrlich über das eigene Leben schreiben? Vor allem, wenn das unehrliche Schreiben über das Leben anderer doch ganz authentisch wirken kann? Das Übereinanderlegen, Verschachteln, Streichen und Fiktionalisieren von Erinnerung wird in “Lügenleben” dabei unprätentiös reflektiert: So wie er die Geschichten seiner Kunden aufnimmt, abspult, bearbeitet, rausstreicht und seine eigenen Erinnerungen einwebt, so macht es der Autor auch bei der Geschichte seines Erzählers. Immer wieder sind Dialogteile oder Passagen durchgestrichen, sodass man die Stellen mehrmals lesen muss, um zu begreifen, wie sie die Wahrnehmung verändern.


Und wenn er davon erzählt, wie er detaillierte kleine Erinnerungen seiner Kindheit an die Kindheitserinnerungen seiner Kunden abgibt, fragt man sich, ob die detaillierten Beschreibungen vom Anrühren eines Tees, vom Zubereiten von Linsen mit Thymian und Zitrone, vom Rasierritual des Vaters, den kleinen Alltagshandlungen, auch geborgt sind. Denn sie umgreifen sprachlich so behutsam Momente, die eigentlich unbedeutend sind, dass nur sie so besonders authentisch wirken können - wenngleich die detaillierte Beschreibung diesen Anspruch selbstreferentiell untergräbt. Auch zeugen sie aber von der nüchternen Melancholie des Erzählers: Said weiß, dass er seinen Kindern diese für ihn so wertvollen Erinnerungen nicht schenken wird können. Nicht nur, weil sie nicht in seiner Heimat aufwachsen, sondern weil sie den Alltag nicht mit ihm teilen, denn sie wohnen bei der Mutter. An einer Stelle fragt er sich sogar, ob er sie zu sich einladen soll, damit sie ihm beim Rasieren zugucken können: “...mir bricht das Herz, weil meine Kinder mich nicht dabei beobachten. Vielleicht werde ich sie eines Tages hierher bringen und mich bei offener Badezimmertür rasieren, damit sie mich sehen können, denn hier gibt es in den Wohnräumen keine Waschbecken...”


Seine Familie in Israel hat Said seit Jahren nicht mehr gesehen. Als er die Nachricht erhält, dass sein Vater mit einem Herzinfarkt im Krankenhaus liegt, leiht er sich Geld bei seiner Frau, fliegt von Chicago nach Tel Aviv und reist weiter nach Tira, eine israelische Stadt in der fast nur Araber leben und in der er aufwuchs. Seine Familie empfängt ihn wenig herzlich, denn er verließ Israel damals Hals über Kopf mit seiner neu angetrauten Frau. Seitdem lebt er in den Vereinigten Staaten, einem Ort, an dem sich die Kellner nicht an seine übliche Bestellung erinnern, an dem der Friseur nur aus der Kartei entnehmen kann, welchen Haarschnitt er möchte, und an dem sich die Barkeeper nicht mit einem unterhalten. Seine Kinder wohnen bei seiner Frau Falestin (die, wie man später erfährt, natürlich einen anderen Namen trägt); sie arbeitet an der Universität, während er in einem Apartment im Studentenwohnheim haust. Zwei Monate nach seiner Rückkehr aus Tira legt er die Kassette in den alten Rekorder und hört sich das Gespräch an, das er am Sterbebett seines Vaters aufgenommen hat. “Was ist deine früheste Erinnerung?” “Ich habe dich nicht aus Amerika kommen lassen, um über meine früheste Erinnerung zu reden.”


Er hat seinen Sohn nach Israel kommen lassen, um sich zu verabschieden; und Said muss sich gleichzeitig von seiner Heimat verabschieden, wie er sie kannte. Auf beides ist er nicht vorbereitet. Und so wie der Roman immer wieder zwischen dem Besuch in Tira, seinem Leben in den Vereinigten Staaten und seinen Erinnerungen an sein Leben in Israel springt, ergibt sich ein kaleidoskopartiges Bild seines Aufgewühltseins, das Kashua jedoch besonders ruhig beschreibt. Kashua verwebt die großen Themen von Trauer, Einsamkeit und Heimweh zu einer Erzählung, die das Wahrhaftige im Fiktiven sucht. Besonders schön ist eine Passage, in der der Erzähler über Google Streetview seinen alten Schulweg abläuft und einen fast unbemerkt in die Kindheit mitnimmt: “Ich gehe auf der Hauptstraße unseres Viertels zur Grundschule. Die Häuser sind teilweise renoviert, es gibt neue Gebäude, alte Läden wurden geschlossen und durch neue ersetzt. Ich bin nicht der Einzige, der nach Schulschluss auf dem Heimweg ist, auf der Straße laufen Kinder mit den gleichen blauen Uniformen und mit Rucksäcken, eingefroren in der Zeit, marschieren sie mit mir zurück nach Hause. … Ich lief schnell, weil ich mir oder auch den anderen Kindern beweisen wollte, dass der Weg über den Friedhof keine wirkliche Abkürzung war …”. Erst spät begreift er, dass die Kinder ihn damals nur loswerden wollten. Der gleitende Finger auf den Touchpad kongruiert mit der gleitenden Figur, die die immer und immer wieder abgelaufenen Wege erneut besucht. Ist es vielleicht das digitale Panoramabild, das im wahrsten Sinne ein Weg zuerst zur authentischen räumlichen, dann zur authentischen emotionalen Erinnerung öffnet?


Kashua vermag es, in einer reduzierten und dichten Sprache seines Romans, der von Mirjam Pressler als ihre letzte Übersetzung aus dem Hebräischen übertragen wurde, den in sich gekehrten Seinszustand seines Erzählers zu spiegeln. Feinfühlig sucht er sich seiner Heimat und Vergangenheit anzunähern, wohlwissend, dass es ein Zurück nicht mehr geben wird. Dieser teils apathischen Gedankenwelt ist sich Said bewusst. Distanziert nennt er seine Kinder fast nie beim Namen (er spricht meist von “der Tochter” und “den Söhnen”), und immer wieder malt er sich aus, wie viel besser das Leben sein könnte, wenn er die Dinge nur beim Namen nennen würde. Doch dann schweigt er wieder. Ein eigenes Glück hat er sich abgesprochen, nachdem seine Falestin wegen ihm ihren Heimatort verlassen musste. Dabei bleibt Falestin, Sinnbild für Palästina, die wahre schweigsame Figur des Romans. Bis zum Ende schält sich zwar langsam heraus, was damals vorfiel. Die beiden reden aber nie darüber, und so rahmt sich der Text um seine eigene Version der Dinge, um das Leben, wie er es erzählt, wie er es lektoriert hat.

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