Teenies, die keine Teenager-Dinge tun: Die Serie „Euphoria“ erzählt von der ersten wirklichen Digital-Native-Generation.
Erschienen am 20. Oktober 2019 in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung
"Ich beneide eure Generation. Ihr schert euch nicht so sehr um die Regeln“, sagt der Mann mit den graumelierten Haaren zur siebzehnjährigen Jules. „Nicht so wie wir, die Erwachsenen“, scheint er zugleich sagen zu wollen. Jules, gespielt von Hunter Schafer, ist neu in der namenlosen Vorstadt irgendwo im durchschnittlichen Amerika, in der die HBO-Serie „Euphoria“ spielt. Jules ist schlank und blond und schön, trägt kurze Röcke und buntes Make-up. In einer Teenie-Serie aus den neunziger Jahren wäre sie in der Schule das beliebte Mädchen gewesen. In „Euphoria“ ist sie eine Außenseiterin. Aber zumindest ist sie nicht alleine. Ihre beste Freundin ist Rue, gespielt vom ehemaligen Disney-Channel-Star Zendaya. Sie ist die allwissende Erzählerin der Serie und ihre Stimme die einer Generation, die sich anscheinend nicht an die Regeln hält.
Rue ist, so sagt sie, einmal glücklich gewesen, das war, als sie noch im Bauch ihrer Mutter lebte. Dann verlor sie ihren „ersten, aber nicht letzten Kampf“ und wurde geboren, obwohl sie das gar nicht wollte. Drei Tage nach dem 11. September, weshalb die ersten Momente ihres Lebens von Bildern der fallenden Türme überschattet wurden. Schnell stellt eine Psychologin fest, dass sie „gestört“ sei; sie leide mindestens an Zwangsstörungen, Aufmerksamkeitsdefizitstörung, Angststörung, „eventuell auch bipolare Störung, aber sie ist ein bisschen zu jung, um das feststellen zu können“. Also wird Rue schon früh medikamentös eingestellt, und durch die Krebserkrankung ihres Vaters kommt sie in Kontakt mit Pillen und schnell auch mit anderen Substanzen, um sich zu betäuben.
Als Jules in die Stadt zieht, kommt Rue gerade aus der Entzugsklinik, in die sie wegen einer Überdosis eingeliefert wurde. Sofort besucht sie wieder ihren Dealer Fezco (Angus Cloud), der ihr prophezeit, dass sie und Jules beste Freunde sein werden. Und so wird Jules schnell zum Hoffnungspunkt in Rues Leben. Rue ist smart und vielleicht deswegen so pessimistisch, wenn sie Folge für Folge analysiert, wie die Jungen und Mädchen um sie herum zu den jungen Frauen und Männern geworden sind, die sie sind. Da gibt es Maddy (Alexa Demie), die schon früh lernt, dass es einfacher ist, durch Schönheit als durch Fleiß aufzufallen, und Cassie (Sydney Sweeney), deren Mutter stets ein Glas Chardonnay in der Hand hat und die deshalb Halt bei ihrem Freund sucht. Oder Kat (Barbie Ferreira), die unter ihrem Gewicht leidet, dann aber ein Alter Ego als Camgirl kreiert und das Selbstbewusstsein, das sie online hat, auf ihr echtes Leben überträgt.
Was die Serie für ihre weiblichen Charaktere leistet und nuanciert beschreibt, das schafft sie leider nicht genauso gut für die männlichen Figuren. Der überstarke Vater, der sportliche Höchstleistung erzwingen will, wird von beiden Hauptfiguren, Nate (Jacob Elordi) und McKay (Algee Smith), verkörpert. Nate vereint als meistgehasster und meistverehrter Quarterback der Schule dann doch zu sehr die Stereotype amerikanischer Teeniefilme in sich. Vielleicht zeigt sich aber in diesen Figuren, dass die Männlichkeitsbilder in der amerikanischen Popkultur doch immer noch recht beschränkt sind und dass selbst einer Serie wie „Euphoria“ hier die nötige Kreativität fehlt.
Die Welt, die Rue beschreibt, ist bestimmt von Sex, Gruppenzwang, Nötigung, Drogen und Gewalt. Und immer wieder stellt sich die Frage, ob diese Welt, in der die Jugendlichen leben, eine von ihnen selbst geschaffene ist oder ob sie nur all das Schlechte der Gesellschaft um sie herum absorbiert und fortführt. Sam Levinson, der die Serie kreiert hat, entwickelte Rues Charakter aus seinen eigenen Erfahrungen mit Drogen und psychischen Problemen, bevor er mit 19 Jahren dann clean wurde.
Die Serie hat er gemeinsam mit den Machern des israelischen Originals von 2012 produziert, das allerdings in den neunziger Jahren spielt. Die Adaption zeigt nun also eine andere Generation: nämlich die „Gen Z“, die als erste wirkliche Digital-Native-Generation ihre Jugend abgekapselt von den Eltern durchlebt und sich ihnen in vielem überlegen fühlt. Denn durch das Internet erzieht sie sich selbst: Pornos werden geschaut, um Sexposen nachzuahmen, Wirkungen von Pillen und chemischen Drogen nachgeschlagen, Geld auf zwielichtigen Websites verdient.
Was „Euphoria“ so glaubwürdig macht, ist Levinsons Anspruch, die Serie eben nicht dokumentarisch zu gestalten, wie es beispielsweise die britische Serie „Skins“ tat, mit der „Euphoria“ oft verglichen wird. Die Metaebene, auf der Rue erzählt, die übertriebenen Outfits der Protagonistinnen, die gleitenden Kamerafahrten und der ständig präsente Soundtrack (Drake produzierte die Serie mit) gestalten die Smartphone-Social-Media-Welt der Figuren viel anschaulicher, anstatt sie nur zu beobachten. So nutzt die Serie ihre Erzählform, um zu kommentieren, zu präsentieren, durch die eigene Welt zu scrollen und dabei ständig Kopfhörer aufzuhaben.
In den Vereinigten Staaten wurde „Euphoria“ vorgeworfen, pornographisch zu sein. Der Vorwurf ist nachvollziehbar, schließlich sieht man nicht nur Sex zwischen den Charakteren, sondern auch tatsächliche Ausschnitte aus Internetpornos. Levinson scheut sich nicht, Körper, vor allem männliche, nackt zu zeigen – was vermutlich den eigentlichen Skandal darstellt, weil die in Mainstreammedien sonst eher selten zu sehen sind. Diese expliziten Darstellungen kann man kritisieren. Aber sie zeigen auch, wie anders die Beziehung der Generation Z zu Sex und Nacktheit ist. Cassie, deren Fotos und Videos vor allem unter den Jungs herumgereicht werden, entscheidet sich, nichts dagegen zu tun. „Sie dachte sich, dass, wenn sie später studieren und einen Job suchen würde, sowieso 99 Prozent der Bevölkerung unfreiwillig Nacktbilder von sich online hätten.“ Ein Skandal ist das nur für Ältere.
Wie sollten die Älteren dieser Jugend also Vorbild oder Feindbild sein, wenn sie selbst kaum Ahnung von den Auswüchsen des Internets haben? Wenn sie nicht auch aufgewachsen sind mit den vielen Kommunikationskanälen, durch die sich alles verfolgen oder verwischen lässt? „Das muss komisch sein“, sagt Rues Kindheitsfreundin zu ihr auf einer Party, „ein Teenager zu sein, aber nicht in der Lage zu sein, Teenager-Dinge zu tun“ – „Schon, aber wenn ich erwachsen bin, werde ich auch nicht in der Lage sein, erwachsene Dinge zu tun.“ Welche Zukunft eröffnet sich der Generation Z, wenn sie sich selbst nicht ernst nehmen kann? Rue und ihre Freunde scheinen nicht mal rebellieren zu wollen.
Trotz ihrer Abgeklärtheit findet die Serie noch etwas Platz für die erste unschuldige Liebe, und zwar zwischen Rue und Jules. Dass Jules trans ist, wird angenehmerweise nicht ausdrücklich zum Thema gemacht. Ihr Transsein ist Normalität. Ihre Person ist vor allem dadurch bestimmt, dass sie intelligent und kreativ und liebenswürdig ist, weshalb sich Rue von ihr angezogen fühlt, aber auch etwas verunsichert ist. Spätestens als Rue dann als Leonardo DiCaprios Romeo und Jules als Claire Danes’ Juliet zur Halloweenparty gehen, wird Rue und den Zuschauenden das Dilemma dieser ersten Liebe bewusst. Denn die hält ja bekanntlich fast nie – warum sich also darauf einlassen?
Jules wegen versucht Rue aber trotzdem, clean zu bleiben, und übernimmt schließlich auch für ihre kleine Schwester Verantwortung, sobald sie merkt, dass diese anfängt, mit Freunden Gras zu rauchen. „Euphoria“ kommt dabei aber nicht belehrend daher, wie andere aktuelle Teenie-Serien (zum Beispiel „13 Reasons Why“). Sondern begreift die paradoxe Situation dieser amerikanischen Jugend, viel aufgeklärter über Sexualität, Drogen, Gewalt zu sein, und gleichzeitig viel überforderter, um ein gesundes Verhältnis zu alldem zu entwickeln, anstatt einfach nur nachzuahmen, was sie im Internet findet.
Wie Zendaya in einem Interview erklärte, sei die Serie vor allem „über Jugendliche“, nicht unbedingt „für Jugendliche“ („für über 18-Jährige“, so wird gewarnt). Und Rue klagt dann auch direkt eine ältere Generation an, die ihren Altersgenossen rät, keine Nacktbilder zu machen: „Ich weiß, eure Generation war auf Blumen und die Erlaubnis eures Vaters angewiesen, aber es ist 2019, und wenn du kein Amish bist, dann sind Nacktbilder nun mal die Währung der Liebe. Hört auf, uns dafür zu beschämen. Beschämt die Kerle, die passwortgeschützte Online-Verzeichnisse von nackten minderjährigen Mädchen erstellen.“
Diese Anklage wird besonders zynisch in den Plot der ersten Folge eingebaut, weil der Mann mit den graumelierten Haaren (Eric Dane) selbst Vater ist, der Jules seinen Neid auf ihre Generation in einem Motelzimmer gesteht, in dem er sich mit ihr über eine Dating-App verabredet, um mit ihr zu schlafen (wobei mit Blick auf die Machtposition zu fragen ist, wie einvernehmlich dieser Sex wohl sein kann). Ob die Serie der Elterngeneration ganz gerecht wird, ist aber nicht nur wegen dieser schwer erträglichen Szene fraglich. Die Eltern, die in „Euphoria“ gezeigt werden, leiden zum Teil selbst an Traumata, sind süchtig oder schlichtweg abwesend. Sie halten sich also selbst nicht „an die Regeln“.
Erst in der letzten Folge kommt eine der verantwortungsvolleren Mütter zu Wort, nämlich Rues. Vor der Selbsthilfegruppe ihrer Tochter spricht sie darüber, wie es ist, ein Kind zu haben, das einem ständig entgleitet, weil man es so wenig begreifen kann: „Was wäre, wenn mir irgendein allwissender Erzähler bei ihrer Geburt gesagt hätte, was passieren wird? Dass ich genauso hilflos sein werde wie sie. Dabei ist sie noch ein Kind, und die wirklich schweren Momente werden noch kommen.“ Vielleicht teilen beide Generationen dann doch mehr – und wenn es nur diese Erkenntnis ist.
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