Erschienen am 5. April 2020 in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung
Das Internet hat einen neuen Liebling: Joe Exotic, den „Tiger King“. Die gleichnamige Doku-Serie läuft genau zum richtigen Zeitpunkt an, wenn Menschen in ihren Wohnungen eingesperrt sind und zusehen sollen, wie ein paar Verrückte in den Vereinigten Staaten Tiger und Löwen in Käfigen ausstellen und um Ruhm und Profit wetteifern.
„Hey all you cool cats and kittens“ ist in den sozialen Medien bereits zum geflügelten Wort geworden: So grüßt Joes Erzfeindin Carole Baskin ihre Anhängerschaft. Sie will angeblich Großkatzen schützen, stellt sie dann aber selbst in ihrem Park aus und lässt sie von unbezahlten Mitarbeitenden pflegen.
Schnell kommt heraus, dass alle, die in dieser absurden True-Crime-Doku eine Rolle spielen, durch Gewalt oder Drogenmissbrauch traumatisiert sind, dass diese privaten Zoos wie Kulte geführt werden und Anlaufstellen für Außenseiterinnen und ehemalige Kriminelle bieten, die als Teenager dachten, dort eine Familie gefunden zu haben. Was die Serie zeigt, ist Trumps Amerika: beherrscht von Größenwahn, Lügen und Gier, ein Amerika, in dem Geschichten einen Platz in der Öffentlichkeit bekommen, in denen Tiere misshandelt und Menschen gequält werden – bis hin zum Suizid und versuchtem Mord. Hier werden Schicksale von Netflix genauso voyeuristisch und übergriffig ausgestellt wie die Großkatzen von ihren Besitzern. Dass diese Narzissten nun in den sozialen Medien wegen ihrer Obskurität zu Kultfiguren gemacht wurden und der Streamingdienst dafür gefeiert wird, ihre erschütternden Geschichten gefunden zu haben, macht das alles noch viel unerträglicher, als es eigentlich schon ist. caod