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Interview mit Marina Benjamin: Der Klappmessermoment

Aktualisiert: 4. Nov. 2020

Unsichtbarkeit und Befreiung des weiblichen Körpers – ein Gespräch mit der Autorin Marina Benjamin über Alter und Wechseljahre.


Erschienen am 11. Oktober 2020 in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung


Im Körper der Gegenwart zu leben ist leicht. Was aber, wenn er schlagartig altert und einen zwingt, anders wahrgenommen zu werden – von sich selbst und von der Umwelt?

Darüber hat die britische Autorin und Journalistin Marina Benjamin ein Sachbuch geschrieben, das eher ein Memoir ist: Nach einer Hysterektomie fand sie sich in den Wechseljahren wieder.


Als ein Freund Ihr Buch vor einigen Tagen auf meinem Arbeitstisch entdeckte, blickte er irritiert und fragte mich, was ich jetzt schon mit dem Thema wolle. Ich verstand seine Wahrnehmung: Gegenüber den sogenannten „mittleren Jahren“ gibt es eine bewusste Befangenheit. Waren Sie selbst einmal ähnlich befangen gegenüber dem Thema?

Bestimmt. Aber es ist doch sehr einfach, in der Gegenwart zu leben. Wir unterstellen unserem Leben eine gewisse Kontinuität, die wir selten in Frage stellen. Natürlich wissen wir, dass Menschen altern. Aber wir beginnen das Altern erst ernst zu nehmen, wenn wir es

selbst tun.


Ihre Erfahrung war mehr von einem Einschnitt als von Kontinuität gezeichnet: Bei Ihnen musste eine Hysterektomie vorgenommen werden. Von einem Tag auf den anderen waren sie unfruchtbar.

Die chirurgische Menopause wirft einen körperlich sofort in die Wechseljahre. Wenn der eigene Körper sich weigert, eine Kontinuität anzunehmen, und auf Veränderung besteht, zwingt er einen dazu, sich anzupassen. Da gibt es dann nichts mehr zu diskutieren: Das reproduktive Leben ist vorbei, der Körper ist verändert.


Sie sagen „körperlich“. Was bedeutete für Sie der mentale Einschnitt?

Das war der Sturz, den ich auch im Buch beschreibe. Ich stand nachts auf, schwang meine Beine aus dem Bett und fiel wie ein Brett. Ich verletzte mich am Kopf, nur knapp über dem Auge. Dass alte Menschen solche alles verändernden Stürze erleben, wusste ich. Aber ich

war ja in meinen Vierzigern. Das war eine seltsame Erfahrung, die über den physischen Akt des Fallens hinausging. Für mich war danach klar: Jetzt werde ich alt.


Im Sinne von: Sie verlieren die Kontrolle über Ihren Körper?

Genau. In gewisser Weise handelt das Buch viel vom Fallen: Altern als ein Sturz von einem Podest. Man fällt sozusagen in Ungnade gegenüber seiner Umwelt. Und man fällt von Gewohntem ab.


Neben dem Fallen finden Sie noch eine weitere Metapher, um das Altern für Sie als Frau zu beschreiben. Sie nennen es „Klappmessermoment“, wenn der weibliche Körper älter und plötzlich, wie eingeklappt, unsichtbar wird. Der ständige Blick, dem man sich so oft gern entzogen hätte, ist nicht mehr da. Nun wird man aber gar nicht mehr wahrgenommen. Wann trat für Sie dieser Moment ein?

Nach der Operation. Auch das zwang mich dazu, die Wechseljahre als etwas Großes in meinem Leben wahrzunehmen, anstatt das Gefühl zu haben, dass ich mich langsam in sie hineinbewegen würde.


Trotzdem vergleichen Sie die Erfahrung der Wechseljahre mit der Pubertät: als die zwei einschneidendsten Erfahrungen des weiblichen Körpers, von einer Schwangerschaft abgesehen. Den erwachsenen Körper erlangt man aber nur kontinuierlich.

Die Erfahrung ist aber immer noch ähnlich. Der Körper verändert sich, und man muss diese Veränderungen mitmachen. Es ist auch ein erzwungener Übergangsritus, eine Art Hinterhalt durch den Körper, der einen als Geisel hält, bis man sich auf ihn einstellt.


In der Literatur, in Filmen und Serien findet sich häufig das Genre des Coming-of-Age. Wo ist denn nun die Coming-into-old-age-Literatur?

Meinem Eindruck nach gibt es da vergleichsweise leider wenig. Zumindest gibt es wenig intelligente Literatur über das Altern. Literatur über das Erwachsenwerden soll ja vor allem Handreichung sein, wie der ersten Hälfte des Lebens zu begegnen sein könnte. Es

gibt aber wenig Literatur, die entwirft, wie die zweite Hälfte des Lebens aussehen könnte.


Die Autorinnen und Autoren in diesem Alter sind beschäftigt, Young-

Adult-Romane zu schreiben . . .

... und wie viele wundervolle Jugendromane und Charaktere gibt es? Ältere Menschen werden hingegen oft als mürrisch, öfter noch als einsam dargestellt. Aber wo ist das Lernen dabei? Was bedeutet der Übergang zur Reife? Für diese Fragen gibt es dann eine Menge schrecklicher Selbsthilfebücher, die einem diktieren, man müsse ganz fröhlich werden. Danach war mir nun nicht zumute.


Sie erwähnen aber dann doch einige Texte, neben C. G. Jung vor allem zwei Autorinnen, Edith Wharton und Colette.

Colettes „Die Freuden des Lebens“ zu lesen war wundervoll anders. Sie erlebte wirklich eine Renaissance, als sie älter wurde. Sie schrieb sehr positiv über die mittleren Jahre. Das war neu für mich.


Sie erwähnen in Ihrem Buch, dass Frauen mittleren Alters einst anders wahrgenommen wurden: Im 19. Jahrhundert wurden Frauen auf Grund gewisser sozialer Umstände ab fünfzig als weise und weltgewandt gesehen. Auch anthropologische Studien zeigen, wie wichtig Frauen in diesem Alter in eingeborenen Stämmen sind: Sie sind Leitfiguren, vermitteln Lebensweisen und Wissen. Werden Frauen dieses Alters auch heute genug gewertschätzt?

Frauen sind sehr wohl, ob in Familie oder der Politik, Bildung oder Wirtschaft, heute Leitfiguren. Aber Edith Whartons Roman „Dämmerschlaf“ zeigt, was passiert, wenn eine Gesellschaft wie unsere das Altern im Taylor’schen Sinne betrachtet: Das Altern ist dann nur ein Schritt in Richtung Redundanz, und schließlich zur Obsoleszenz. Als ob das Leben ein Fließband wäre. Und der menschliche Körper ein Produkt, das entsorgt wird, sobald es nicht mehr sozial effizient ist.


Und was bedeutet das für den weiblichen Körper, wenn er keinen weiteren Körper reproduzieren will oder kann?

Für viele Frauen kann das eine ziemliche Erleichterung sein, kein Fortpflanzungskörper mehr zu sein. Dieser Körper ist zwar magisch, aber er ist auch unkontrollierbar: Er leckt, ist unberechenbar, in Zyklen eingebunden, an die man vielleicht nicht gebunden sein

möchte.


Ist der Menopause-Körper dann nicht die wahrscheinlichste Form eines, abstrakt gesprochen, gleichberechtigten Körpers zum Mann? Die Frau ist befreit von der reproduktiven Eigenschaft.

Männer erleben ja keine ähnliche Befreiung.


Das nicht. Aber dann kann man sich ja übers Altern verstehen.

Ja, vielleicht. Männer kämpfen schließlich genauso hart dagegen an, wenn auch auf unterschiedliche Weise.


Ihre Buchkapitel sind nach Körperteilen benannt. In „Muskeln“ schreiben Sie über den Verlust Ihres Vaters, in „Herz“ über die Beziehung zu Ihrer Tochter, in "Eingeweide" über die Herkunft Ihrer Mutter Warum haben Sie sich dafür entschieden, den Körper so eng mit Ihrer Familiengeschichte zu verflechten?

Ich wollte nachempfinden, wie viszeral unsere Erfahrungen in der Welt und mit der Familie sind: mit dem sterbenden Körper, mit der Adoleszenz, mit dem mütterlichen Körper. Ich wollte Reflexionen über die Beziehungen zu unseren Nächsten – unseren Kindern, unseren Eltern – im Körper selbst verankern. Wie Colette schreibt: Der Körper weiß, und er denkt. Es ist der denkende Körper, an dem ich interessiert war. Es ist ziemlich schwierig, sich darauf einzulassen, weil wir so viel mit unserem Verstand operieren. Daher der viszerale Ansatz.


Marina Benjamin: „Zwischenzeiten. Vom Verstehen der Wechseljahre“. Aus dem Englischen von Sabine Längsfeld. Arche Verlag, 288 Seiten, 22 Euro

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