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YouTube: Hier wird Feuilleton performt

Aktualisiert: 20. März 2020

Sie recherchieren, schreiben, filmen, schneiden, gestalten, erklären: Auf YouTube wird Kulturwissen anschaulich vermittelt.


Erschienen am 16. Juni 2019 in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung


Die Musik von Frank Ocean besitzt eine cineastische Qualität, die Filme von Lynne Ramsay haben eine poetische. Diego Velázquez könnte eines der besten Gemälde gemalt und Emily Dickinson eines der schönsten Gedichte geschrieben haben. Entweder haben Sie diese Musik schon einmal gehört, die Filme oder Gemälde gesehen und die Texte gelesen und haben dazu eine Meinung. Oder Sie lassen es sich von den Youtubern erklären, die all das behaupten.


Von Evan Puschak und Kristian Williams zum Beispiel, die jeweils als The Nerdwriter und Kaptainkristian Essays über Filme und Popkultur, über Poesie und Kunst, über Musik und Kultur schreiben. Sie sind Youtube-Feuilletonisten, die die Plattform und das Medium Video nutzen, um ihre Thesen audiovisuell zu untermauern. Und zwar nicht nur als grafisch-animierte Erklärvideos, sondern in kleinen Filmen, in denen Form und Inhalt ineinandergreifen.


Da gibt es den Kanal Wisecrack, der im Format „8-Bit Philosophy“ ontologische Fragen im Retro-Computerspiel-Stil erkundet; oder in „Deep or Dumb?“ besonders kontroverse Kunstwerke („Game of Thrones“, Banksy) untersucht; oder „Thug Notes“, in dem der „Original Gangster Sparky Sweets, Ph.D.“, bürgerlich Greg Edwards (abgebildet oben auf dieser Seite), die Weltliteratur von Homer bis Harper Lee im Rap-Slang analysiert. Und es gibt Lindsay Ellis, eine der wenigen Youtuberinnen in dieser Sparte, die vorführt, wie man mit der Kritischen Theorie „Transformers“ auseinandernehmen kann, und in „Loose Canon“ Kultfiguren und deren Eingang in Literatur und Film recherchiert. Filme werden von Michael Tucker und Tony Zhou in „Lessons from the Screenplay“ und „Every Frame a Painting“ genauer unter die Lupe genommen. Vom Text zum Film, vom Film zum Bild zurück zum Text, gesprochen und schriftlich und untermalt mit Ton und, ja, wieder mit Bild, am besten mit bewegtem. Intermediales und Intertextuelles wird hier nicht nur gezeigt, es wird performt.


Kaptainkristian lud 2017 ein Video hoch, in dem er zeigt, wie Rapper-Autor-Produzent-Schauspieler-Comedian Donald Glover, auch als Childish Gambino bekannt, exemplarisch für die „Bindestrich-Künstler“ unserer Zeit steht: Glover sei nicht einerseits Schauspieler, andererseits Rapper, seine Kunst mache aus, dass all ihre Formen konzeptuell ineinander verwoben sind. Das zeige sich besonders beim Album „Because the Internet“, für das Glover zwei Kurzfilme drehte, ein Drehbuch schrieb, eine visuelle Kunstshow für Konzerte inszenierte und eine Kunstfigur erschuf.


Das Selbstverständnis des Künstlers, wie es kaptainkristian beschreibt, ist im Grunde wie das dieser Youtuber: Sie recherchieren und schreiben wie Journalisten, sie vertreten ihre Meinungen wie Kolumnisten, sie filmen, schneiden und produzieren Bewegtbilder wie Filmschaffende, sie gestalten ihre Videotexte wie grafische Künstler, sie erklären und bereiten Wissen auf wie Dozenten, aber mit Witz und Finesse, wie gute Unterhalter. Sie machen sichtbar, wie sich Wissensvermittlung qualitativ verändert hat und wie formschön und unterhaltend sie sein kann, wenn jemand genügend Zeit und Geld investiert.


Es kommt nicht von ungefähr, dass Schüler heute mit animierten Präsentationen samt eingebetteten Videos in zehn Minuten mehr erklären können, als es Schulreferate vor zwanzig Jahren konnten. Youtuber wie The Nerdwriter sind aber nicht nur die Streber, die optimierte Powerpoint-Präsentationen ins Netz stellen. Puschak stellt Fragen, wie es Feuilletonisten auch tun, mit dem Unterschied, dass er sein eigener Ressortleiter ist und dank des Formats, das nicht aktuell sein muss, thematisch frei ist.


Hier liegt das Potential dieser Kanäle, denn im Gegensatz zu Zeitungen (ob Print oder Online) leben sie von einem familiären Austausch mit ihren Abonnenten. Und obwohl Youtube-Kommentarspalten so berüchtigt sind wie die bei Facebook, wird hier vor allem viel gelobt, kritisch nachgefragt und, sehr beliebt, werden Themen gewünscht. Michael Tucker drehte deshalb für den millionsten Abonnenten von „Lessons from the Screenplay“ ein Video zu dem oft gewünschten Film „Adaptation“, in dem er selbst in die Rollen der Kaufman-Zwillinge schlüpft: „Adaptation“ adaptieren, sehr meta, meta, meta.


Die Bindung zu den Abonnenten ist natürlich nicht nur intellektueller Art, sie finanzieren die Kanäle über Crowdfunding mit. Geworben wird hier trotzdem, vor allem für Schnittprogramme und Streaming-Kanäle. Youtube als sich selbst finanzierender Schaltkreis funktioniert also nicht nur bei Beauty-Produkten. Dass es für Youtuber aus den Vereinigten Staaten einfacher ist, solche Videos zu produzieren, liegt an der „Fair Use“-Klausel, die das Urheberrecht lockert: Wer für Kritiken, Kommentare oder Analysen geschütztes Material verwendet, darf das auf „angemessene Art“ auch tun.

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