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Aimé Césaire: Auf der Blumeninsel

Kein anderer afrokaribischer Dichter prägte seine Heimat politisch so sehr wie Aimé Césaire. Eine Spurensuche auf der französischen Antilleninsel Martinique.


Erschienen in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung am 14. April 2024


Weit oben, auf einem der Hügel der Stadt, steht ein flaches Haus. Das breite, weiße Gebäude ist umschlossen von einer gefliesten Veranda. „Typisch kreolisch“, sagt eine Frau, die davorsteht. Sie ist fast 70 und sieht wesentlich jünger aus, ihr Haar hat sie streng gescheitelt und in einen Zopf gebunden. Ihr Name ist Rimbaud Seymiane. „Genau, wie der Schriftsteller“, sagt sie und lächelt. Sie sei im Haus nebenan aufgewachsen, wollte eigentlich nur sehen, was daraus geworden ist. „Ich wollte immer wissen, wie Aimé Césaire eigentlich gelebt hat.“


Über ein halbes Jahrhundert war Aimé Ceśaire Bürgermeister von Fort-de-France, der Hauptstadt Martiniques. Nach seinem Tod 2008 wurde der Flughafen der Karibikinsel nach ihm benannt. Und seit gut zehn Jahren ist sein Büro unten in der Stadt als kleines Museum zu besichtigen, und sein Wohnhaus oben, das Maison d’Aimé Césaire, hat Denkmalstatus. Als Politiker, Dichter und Essayist ist er berühmt geworden; seine Heimat, deren Natur und Geschichte haben dabei sein Denken und Schreiben geformt. Und welche Bedeutung hat er heute für Martinique?


Die Tür steht offen, so wie fast alle der graublauen Fensterläden. Geht man hinein, steht man sogleich im Wohn­zimmer, einem hellen Raum, schlicht und stilvoll eingerichtet mit Rattansesseln, Holzregalen, in denen Bildbände stehen, Mahagonimöbeln, einem runden Couchtisch, auf dem sich seine eigenen Bücher stapeln. Die kleine Bibliothek nebenan umfasst fünftausend Bände. Einige sollen restauriert werden, sagt Mireille Mondésir, die für die Förderung des kulturellen und materiellen Erbes von Aimé Césaire in Fort-de-France verantwortlich ist. „Einige sind sehr alt und leider teilweise beschädigt“, sagt sie. Sie möchte das Haus bald zu einem richtigen Museum machen. Derzeit ist die Maison d’Aimé Césaire nur wenige Stunden in der Woche zu besichtigen.


Rimbaud steht auf der Veranda und unterhält sich mit einer Frau in türkisem Kleid. Ihr Haar ist ein wenig ergraut, ihre Kreolen glänzen hell. Sie heißt Clémence Franchinard und war bis zum Tode Césaires dessen Haushälterin, insgesamt zwanzig Jahre lang. Die 63-Jährige erzählt gerne von Césaire „als Mensch“, der viel Kaffee trank, gern Kuchen und Kokoseis aß, überall las, überall schrieb, überall Bücher stapelte. Césaire hatte das Haus im Jahr 1957 für seine Familie gekauft, aber er zog erst in den Siebzigern ein. Da war seine Frau Suzanne schon gestorben. Die Kinderzimmer sind heute Abstellräume, die Fensterläden geschlossen.


Mondésir zeigt auf die karge Wiese vor der Veranda. Sie will dieses Jahr endlich den Garten neu gestalten, sagt sie, „mit den Pflanzen, von denen er so fasziniert war“. Sie führt in sein Arbeitszimmer auf der anderen Seite des Hauses, das gleichzeitig sein Schlafzimmer war. Über seinem Bett hängt ein Holzstich des heiligen Kapokbaumes, umgeben von Tieren und Menschen. Bücher liegen drapiert auf dem Bett, Anzüge aus den Fünfzigern hängen an der Schranktür, an deren Rücken sein Schreibtisch steht. „Die Fotos und Notizen hat er genauso hinterlassen“, sagt Mondésir. Auf dem Tisch liegt ein dicker Band seines bekanntesten Werkes, der „Tropiques“. Die Zeitschrift gründeten Césaire und seine Frau zur Zeit des Vichy-Regimes, sie veröffentlichten darin Texte über die Kultur der Nachfahren der Sklaven, Mythen, Folklore, aber auch Naturstudien über die Antillen. André Breton, der während des Krieges auf Martinique lebte, wurde zu einem engen Freund und steuerte surrealistische Texte bei.


Rimbaud wartet vor dem Eingang. Nur wenige Jahre war sie Césaires Nachbarin gewesen. Damals hätte sie sich nie getraut, mal anzuklopfen, sagt sie. 1974 ging sie nach Europa, um zu studieren, kam wieder und arbeitete hier als Bankerin. Diesen Werdegang hört man oft auf der Insel: Die Lehrjahre werden in Europa verbracht, heute gehen aber viele auch nach Südamerika. Aber man kommt zurück, wie einst Césaire, der in Paris studiert hatte. Das haben die kolonialen Machtstrukturen, die bis heute noch nachwirken, verändert, sagt Mondésir. 80 Prozent der Inselbewohner sind schwarz, doch bis heute besitzen wenige weiße Familien, die sogenannten „béké“, die Nachkommen der Sklavenhalter, mehr als die Hälfte der Ländereien, Rum-Destillerien, Supermärkte und Tankstellen. Die Preise sind ähnlich wie in Paris, die Löhne sind anders. Vor ein paar Jahren gab es einen Generalstreik deswegen, seither sollen sich die Löhne etwas angepasst haben. „Junge Menschen bringen ihre Erfahrung, ihr Erspartes, ihr Netzwerk mit.“ Die Freizügigkeit als französische Insel trägt für nachfolgende Generationen Früchte.


Von der Bibliothek ins Kulturzentrum


Unten in der Stadt herrscht reger Verkehr. An einem Hochhaus hängt ein großes Plakat mit Césaires Konterfei: „Les Hommes de bonne volonté feront au monde une nouvelle lumière“ steht darunter, in etwa: Menschen guten Willens werden der Welt neues Licht schenken. Es gibt eine winzige Sonderausstellung zu Césaire in der Bibliothèque Schœlcher, einem imposanten Belle-Époque-Gebäude, benannt nach dem bekannten französischen Abolitionisten. Die Bibliothek wurde einst bei der Weltausstellung 1989 in Paris ausgestellt, bevor sie hier in Fort-de-France Stein für Stein wieder aufgebaut worden war. Im Angesicht der Fassade kann man den Glanz einer grausamen Epoche nachvollziehen. Der Lesesaal besteht heute hauptsächlich aus Taschenbüchern, zu den historischen Büchern auf der Maisonette kommt man nicht hoch. Die Ausstellung beschränkt sich auf ein paar Plakate. Ein Césaire-Zitat prangt darauf, das nicht passender für das Gebäude sein könnte: „Es ist die Reise bis zum Ende des Selbst, die uns das Anderswo und das Ganze entdecken lässt.“


Unweit der Bibliothek befindet sich das Théâtre Aimé Césaire, das sich im ehemaligen Hotel de Ville befindet. Ein zweistöckiges Gebäude mit angedeuteten ionischen Säulen und verschnörkeltem Balkon, vor dem Palmenblätter im Wind wehen. Hier hatte Césaire sein Amtsbüro, heute ist es ein Kulturzen­trum, wo Konzerte und Stücke aufgeführt werden. Eine Frau in hellen Hosen stellt sich als Valérie vor und führt in den ersten Stock. Das Bureau d’Aimé Césaire besteht aus einem großen Raum: ein wuchtiger Mahagoni-Schreibtisch, eine Sitzgarnitur mit Chaiselongue für seine Gäste, große moderne Bilder. Valérie bedeute Césaire und seine Arbeit viel, sie liebe Martinique und was er für seine, für ihre Heimat erwirkt habe: „Es war David gegen Goliath. Ein kleiner Mann gegen die große Nation.“


Kein anderer Politiker der Karibik machte die Realitäten der ehemaligen Kolonie präsenter im Bewusstsein des „Mutterlandes“ Frankreich. Gemeinsam mit seinem Studienfreund Léopold Sédar Senghor, der später Präsident Senegals werden sollte, begründete er die Négritude, indem sie wütend gegen den Kolonialismus anschrieben und stolz die kulturelle Selbstbehauptung der Schwarzen formulierten. Es sollte ein anderes Schreiben sein, das sich politisch, poetisch, surrealistisch im Stil gegen einen europäischen Kanon stellte. „Wir gehen auf dem Kompost, der uns zartes Zuckerrohr und seidige Baumwolle verspricht“, schreibt Césaire in seinem „Notizbuch einer Rückkehr in die Heimat“. Bevor der Krieg ausbrach, kehrte er zurück nach Martinique, um Literatur zu unterrichten.


1945 wird Césaire dann aufgefordert, bei den Bürgermeisterwahlen den kommunistischen Kandidaten zu stellen, und gewinnt. 1946 setzt Césaire durch, dass Martinique des Status einer Kolonie enthoben wird. Seitdem ist die Insel ein Übersee-Departement Frankreichs. Zwei Jahre nach Césaires Tod wurde abgestimmt, ob die Departements unabhängig von Frankreich werden sollten. Die Bevölkerung stimmte mit großer Mehrheit dagegen. Heute stellt sich weniger die Frage nach der Unabhängigkeit als nach der Verantwortung.


Die „Blumeninsel“, Madinina, wie sie die Eingeborenen einst tauften, so üppig, dass Christoph Kolumbus sie das „fruchtbarste, süßeste, mildeste und zauberhafteste Fleckchen Erde“ nannte, mit ihren „sesamfarbenen Stränden“ (Césaire), wurde mit ihren vielen heilenden Kräutern auch zur „Apotheke Frankreichs“. Die reichhaltigen Böden und das günstige Klima der Vulkaninsel machen den Anbau von Zucker und Bananen ertragreich. Bis heute sind sie die wichtigsten Produkte Martiniques.


Ein Samana-Baum mit Geschichte


Baumwolle, dann Tabak und Kakao, dann Zuckerrohr, das waren die Erzeugnisse, die die Sklaven der Kolonie Martinique anbauen und ernten mussten. Der riesige Samana-Baum steht auch heute noch wunderschön und mächtig in den Habitations. Manche wollten ihn zum Weltkulturerbe ernennen, doch viele Karibikbewohner seien dagegen gewesen. Sklaven, die flüchten wollten, wurden an seinen ausladenden Ästen gehängt. Auch dort, wo die Natur heute in ihrer Schönheit trumpft, lässt sich die grausame Geschichte der Menschen, die sie bewohnten, nicht leugnen.


Zwischen all den Büchern, Bildern, Fotos, Schriften ist es diese Natur, die immer wieder hervorbricht. Für Césaire stand sie im Fokus. Er sei besessen von Natur, von der Blume, von der Wurzel, schrieb er. „Alles ist mit dem Umstand verbunden, als Mensch von seinem Ursprung vertrieben worden zu sein.“ Als Césaire Mitte der Fünfziger aus der Kommunistischen Partei austrat, gründete er eine neue Partei. Ihr heutiger Vorsitzender wurde als Césaires Nachfolger ins Bürgermeisteramt von Fort-de-France gewählt. Das Symbol der Parti progressiste martiniquais steht als Figur auf dem Schreibtisch: eine Helikonie, deren hellrote Blüten selbst widrigsten Witterungen widerstehen.

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